Der „Schriftenstreit“ zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und der „Christlichen Versammlung“

„Sekten hassen sich desto mehr[,] je näher sie in ihren Meinungen einander kommen“, zitiert Georg Christoph Lichtenberg einen ungenannten Rezensenten.1 Trifft es zu, dass Religionsgemeinschaften, deren Herkunft, Lehre oder Praxis einander stark ähneln, sich trotz oder gerade wegen der im Vergleich zu Dritten großen Schnittmenge umso stärker bekämpfen? Das Verhältnis zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und der „Christlichen Versammlung“ in Deutschland schien diese Vermutung jedenfalls über Jahre zu bestätigen.

Im Folgenden wird beispielhaft der „Schriftenstreit“, den Vertreter beider Gruppen zwischen 1911 und 1915 miteinander führten und der den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung darstellt, anhand der wesentlichen Stationen näher erläutert. Die Darstellung wird eingeflochten in eine übergreifende Betrachtung des Verhältnisses zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und der „Christlichen Versammlung“.

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1. Das Verhältnis vor dem Schriftenstreit

1.1. Gemeinsame Hintergründe

Auf den ersten Blick dominieren die gemeinsamen historischen Wurzeln, die die „Christliche Versammlung“ und die Freien evangelischen Gemeinden verbinden: Die zu Beginn prägenden Persönlichkeiten der beiden Gruppen, vor allem Carl Brockhaus (1822–1899) und Hermann Heinrich Grafe (1818–1869), arbeiteten von 1850 bis 1852 in dem missionarisch ausgerichteten „Evangelischen Brüderverein“ in Elberfeld eng zusammen. Ende 1852 traten allerdings Brockhaus und sieben weitere „Lehrbrüder“ aufgrund von Lehrstreitigkeiten aus dem Verein aus.2 In den folgenden Jahren entwickelte sich Grafe zum Gründervater der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland (Gründung der ersten Gemeinde 1854) und Brockhaus zur entscheidenden Integrationsfigur der „Christlichen Versammlung“ in Deutschland (die sich etwa ab 1853 zunehmend als Bewegung konstituierte).

Über die zeitweilige Zusammenarbeit der dominierenden Figuren der Anfangszeit hinaus gab es auch vom Grundansatz der Gemeinderichtung her erstaunliche Parallelen. Vertreter der Freien evangelischen Gemeinden legten auf die „Darstellung der Einheit des Leibes Christi“ großen Wert.3 Bis eine „Konfessionalisierung“ der Freien evangelischen Gemeinden als „Prozeß der ‚Kirchwerdung‘ von ursprünglich überkonfessionellen, ökumenisch ausgerichteten Gemeinden“ zu wirken begann,4 betonten sie, etwa in der zweiten Auflage des Standardwerkes Die Gemeinde Jesu Christi (s.u.), es werde „durch die hier vorgetragenen Grundsätze nicht eine neue Denomination zu den schon vorhandenen geschaffen, sondern es wird durch sie ein Boden bereitet, der allen Gläubigen die Möglichkeit bietet, bei Wahrung der persönlichen Freiheit und Selbständigkeit die Einheit der Glieder Jesu im Ernste zu beweisen und praktisch darzustellen“.5 Die gedankliche Nähe dieser ursprünglichen Selbstbeschreibung der Freien evangelischen Gemeinden zu der Position der „Christlichen Versammlung“ bis hin zur sprachlichen Parallelität ist frappierend und zeigt, dass offensichtlich bei „geistlichen Verwandten“6 kaum etwas trennender sein kann als eine gemeinsame Vergangenheit. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Brüderbewegung die Einheit des Leibes Christi von Anfang an „in viel exklusiverer Weise [...] und unter dem Vorzeichen des Brotbrechens“ im Visier hatten.7


1.2. Abgrenzungen

Nach dem Austritt von Carl Brockhaus aus dem Evangelischen Brüderverein hatten Brockhaus und Grafe „kein gutes Verhältnis zueinander“. „Sowohl auf theologischer wie auf menschlicher Ebene sah man [...] eher die Gegensätze als die Gemeinsamkeiten. Dies färbte auch auf das Verhältnis der Gemeinden zueinander ab, denen die beiden jeweils vorstanden“.8 Die inhaltlichen Spannungen zwischen den beiden Gruppierungen, die sich mehr und mehr in verschiedene Richtungen entwickelten, schwelten lange eher im Verborgenen.9 Die Auseinandersetzung gewann jedoch an Deutlichkeit und Schärfe, als die Freien evangelischen Gemeinden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt gegen Mitgliederverluste an die „Brüder“ zur Wehr setzen mussten.

Bereits „seit ihren Anfängen“ dienten die Freien evangelischen Gemeinden, so Hartmut Lenhard, den „Brüdern“ als „Reservoir“, da die „Brüder“ es „nicht eben schwer hatten, Gläubige aus den Freien ev. Gemeinden abzuwerben“.10 Als Grund vermutet Gerhard Jordy, dass „die elitäre Absonderung der ‚Christlichen Versammlung‘ gegenüber der etwas unbestimmten Offenheit der Freien evangelischen Gemeinden etwas Werbendes für zahlreiche Gläubige in diesen Gemeinden hatte“.11

Die Freien evangelischen Gemeinden versuchten jedenfalls spätestens ab 1905, als Die Gemeinde Jesu Christi, das langjährige Standardwerk von Konrad Bussemer (1874–1944) und anderen, erstmals erschien, eine klarere theologische Positionsbestimmung vorzunehmen. Diese Publikation, die erstmals den Gemeindebegriff der Freien evangelischen Gemeinden geschlossen herausarbeitete und definierte, ließ den Wunsch nach Abgrenzung zur „Christlichen Versammlung“ deutlich erkennen. Sie setzte an mehreren Stellen deutliche Akzente gegen anderslautende Lehrpositionen der konkurrierenden Strömung der Brüderbewegung.

Sechs Jahre später entwickelte sich darüber hinausgehend eine literarisch kontrovers ausgefochtene Debatte zwischen Akteuren der Freien evangelischen Gemeinden und der „Christlichen Versammlung“, die in der Freikirchengeschichtsschreibung allgemein unter dem Titel „Schriftenstreit“ zusammengefasst wird.


2. Der Schriftenstreit

2.1. Der Auslöser: Friedrich Kaisers Broschüre

Der Schriftenstreit begann 1911,12 als sich Friedrich Kaiser (1863–1955), ein in Beuel am Rhein wohnender Reiseprediger der Freien evangelischen Gemeinden,13 mit seiner Broschüre Ist die sogenannte Versammlung (darbystische) in ihren Lehren und Einrichtungen biblisch? explizit mit der „Christlichen Versammlung“ auseinandersetzte und ihre Grundpositionen scharf angriff. Kaiser schrieb die Broschüre „in der Absicht [...], solchen Seelen zu dienen, die durch einseitige Bearbeitung und ein verkehrtes Einwirken aufs Gewissen ins Fragen gekommen sind und meinen, daß sie ihren bisherigen gesegneten Gemeinschaftskreis verlassen und der Versammlung beitreten müssen“ (S. 48).

Zwar hielt Kaiser fest, dass „die Versammlung“ „zu den fundamentalen Heilslehren [...] fast dieselbe Stellung“ einnehme wie alle „wahren Gläubigen anderer Benennungen“ (S. 4, auch S. 48), doch kritisierte er deren „Sonderlehren“ aufs Schärfste. Der „Irrtum“ der „Versammlung“ bestehe „darin, daß sie meint, die Einheit aller Gläubigen müsse sich äußerlich darstellen und zwar auf dem Standpunkt, den sie einnimmt und in den Formen, die sie hat“ (S. 48).

Kaiser rührte durchaus an einem wunden Punkt der „Versammlung“, wenn er darauf hinwies, dass gerade die nach Einheit strebende Bewegung sich „(namentlich in England) in eine Menge von Gruppen und Abteilungen gespaltet [hat], von denen eine jede behauptet, die rechte Versammlung zu sein“ (S. 10).

Daneben kritisierte er u.a. die teilweise überbordende Auslegung alttestamentlicher Vorbilder („In diesen Beziehungen nehmen es jedoch die Bibelausleger der sogenannten Versammlung nicht sehr genau; sie allegorisieren und legen häufig in den Text hinein, was er gar nicht enthält, und dabei betonen sie feierlich, daß ihre Auslegungen und Deutungen die Wahrheit sind, während in Wirklichkeit vieles davon nur Menschenmeinung ist“, S. 13) und hinterfragte insbesondere den Alleinvertretungsanspruch der „Versammlung (S. 13ff.) sowie die Annahme, die Geistesleitung hänge von der „Versammlungseinrichtung“ ab (S. 37ff.).

Auch wenn Kaiser damit einige bedenkenswerte Punkte ansprach, schoss er doch mit seinen zugespitzten Äußerungen häufig über das Ziel hinaus, sodass trotz plausibler Ansatzpunkte die Kritik insgesamt eher konfrontativ war. Zudem fehlten ihm hier und da nötige Detailkenntnisse zu einer differenzierten Argumentation.


2.2. Brockhaus’ erste Entgegnung

Rudolf BrockhausRudolf Brockhaus (1856–1932), nach dem Tod seines Vaters Carl unumstrittene Führungspersönlichkeit der „Christlichen Versammlung“ in Deutschland, reagierte 1911/12 in einer Artikelserie in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Botschafter des Heils in Christo ausführlich auf Kaisers Angriffe. 1912 erschienen diese Artikel gebündelt unter dem Titel Die Versammlung des lebendigen Gottes als Buch.14

Brockhaus führte die Diskussion auf einer anderen Ebene weiter: Zwar zitierte er vereinzelt eingeflochten Kaisers Vorwürfe und bezog sich zusätzlich auf Textstellen aus Konrad Bussemers Die Gemeinde Jesu Christi (allerdings ohne seine Kontrahenten namentlich zu erwähnen), vor allem aber führte er dem Leser in Ablehnung einer Verteidigungshaltung davon vollkommen losgelöst aus seiner Sicht gebündelt die Ekklesiologie der „Versammlung“ vor Augen.

Natürlich bestehe „die Versammlung im weiteren Sinne [...] aus allen wahren Gläubigen auf der ganzen Erde, und die Versammlung im begrenzten örtlichen Sinne aus allen wahren Gläubigen an dem betreffenden Orte, mögen sie stehen und sich nennen, wie sie wollen, ja, mögen sie in noch so viele größere oder kleinere Körperschaften und Benennungen zerteilt sein“ (S. 6). „Ein Mittel zur Heilung des allgemeinen Verfalls und Verderbens“ gebe es aber nicht, „es bleibt nur dem Einzelnen übrig, von allem abzustehen, was dem Worte Gottes zuwider ist, und mit denen, die ebenfalls dem Herrn treu sein möchten, zurückzukehren zu dem, ‚was von Anfang war‘“ (S. 64). Damit rückte Brockhaus den Kern seiner Theologie ins Zentrum: das „Erfassen und Verwirklichen der Gedanken Gottes über ‚Christum und die Versammlung‘“ (S. 7).

Die „Christliche Versammlung“ (die Brockhaus dem Selbstverständnis folgend natürlich nie mit einem bestimmten Namen belegt) bemühe sich, so Brockhaus, in diesem Sinne „unter Aufgebung aller Parteiunterschiede und mit Abreißung der Zäune und trennenden Schranken, [...] nach Gottes Gedanken einfach als Brüder, als Kinder Gottes, als Glieder des Leibes Christi, ohne irgendwelche Sonder-Benennung, sich in dem Namen, der allein vor Gott Wert hat, in dem Namen Jesu, zu versammeln“ (S. 10).

Da der „Tisch des Herrn“ der „einzige Platz, die einzige Gelegenheit“ bleibe, wo der Einheit aller Gläubigen „Ausdruck gegeben werden kann“, sei das Abendmahl der „Mittelpunkt, die Grundlage von allem“ (S. 47). Da das Abendmahl eine solch zentrale Stelle einnehme, könne auch nicht jeder daran teilnehmen: „Es ist heute nötig, diejenigen, welche die Zulassung [zur Teilnahme am Abendmahl] begehren, auf die Echtheit ihres Glaubens und ihre Reinheit in Wandel und Lehre hin zu prüfen. Wenn man sagt, die einzige Forderung, welche gestellt werden dürfe, sei die, daß ein Mensch durch den Glauben an Jesum Vergebung der Sünden erlangt habe, so geht das nicht weit genug. Verlangt man eine Unterwerfung unter gewisse Formen und Einrichtungen, eine genaue Übereinstimmung in allen Punkten der Lehre, so geht das zu weit“ (S. 16).

Den Vorwurf, die „Christliche Versammlung“ separiere sich so von anderen Gläubigen, wies Brockhaus zurück bzw. den anderen Gruppen und Gemeinschaften zu: „die Scheidungsgründe liegen auf der anderen Seite, in den vielen menschlichen Zutaten, Namen, Bekenntnissen, Statuten, Einrichtungen &c., die sie [die Vertreter der ‚Christlichen Versammlung‘] nicht als von Gott kommend anerkennen und deshalb auch nicht annehmen können“ (S. 11f.). Damit verdeutlicht Brockhaus aber implizit, dass die Akzeptanz seiner oben geschilderten Grundannahmen und die Loslösung von allen anderen Gemeinschaften auch Voraussetzung für eine Teilnahme an der Feier des Abendmahls bei der „Christlichen Versammlung“ ist.


2.3. Der Höhepunkt des Schriftenstreits

Konrad BussemerIn der literarischen Auseinandersetzung folgte zunächst ein Artikel von Konrad Bussemer im Gärtner, der Zeitschrift der Freien evangelischen Gemeinden (heute: Christsein heute). Bussemer wehrte sich gegen Rudolf Brockhaus’ Kritik an der von ihm in Die Gemeinde Jesu Christi vertretenen Ansicht, der Herr habe „als Baumeister seiner Gemeinde dieselbe auf die Apostel im allgemeinen und auf Petrus im besonderen gegründet“.15 Er führte seine Auffassung, dass Petrus’ Persönlichkeit die entscheidende Rolle bei der Fundamentierung der ersten Gemeinde spielte, weiter aus – dieser Diskussionsstrang stellt aber lediglich einen unbedeutenden Seitenast des Schriftenstreits dar.

Im Frühjahr 1913 nahm der Siegener Prediger Gustav Nagel (1868–1944) den eigentlichen inhaltlichen Faden des Schriftenstreits wieder auf und führte ihn auf ein spürbar anderes Niveau. In der Veröffentlichung Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart schlug er einen anderen Ton an als Friedrich Kaiser; bereits im Vorwort betonte Otto Schopf (1870–1913), hier rede nicht die „Streitsucht, sondern die besorgte Liebe eines im Heiligen Geist ruhigen Gewissens“ (S. 5) „in ernster, freundlicher und möglichst gründlicher Darstellung“ (S. 6). Diesen Anspruch löste Nagel durchgehend ein, er wünschte sich, „daß herzliche und aufrichtige Liebe auch zu den Brüdern von der ‚Versammlung‘ in diesen Blättern kräftig spürbar bleibe“ (S. 20).

Trotz des konstruktiven Anliegens blieb Nagel aber in der Sache hart. Er kritisierte insbesondere, dass die „Versammlung“ „die Absonderung aller Gläubigen von allen dem Kreis der ‚Versammlung‘ nicht angehörenden Gemeinschaften“ fordere (S. 16) und dass sie es als „Sünde“ ansehe, am „Gemeinschaftsleben der anderen Gläubigen“ teilzunehmen (S.19). Dadurch, so Nagel, verlange „die ‚Versammlung‘ [...] in Lehre und Praxis die Trennung nicht nur von der Welt und dem Weltwesen, sondern auch von anerkannt gläubigen Kreisen. Es ist solches Vorgehen aber in keiner Hinsicht mit dem Schriftzeugnis in Einklang zu bringen“ (S. 27). Nagel hielt fest, „die Versammlung“ trage „das Prinzip des Gegensatzes gegen alle außer ihr Stehenden lehrmäßig und bewußt in sich. Es setzt mit der ‚Versammlung‘ eine Schulung und Bearbeitung der Gewissen ein, die den einzelnen die Propaganda, den Kampf gegen alle andersgearteten Kreise als eine innere Notwendigkeit auferlegt. Kampf, Spaltungen, Absonderungen unter Gläubigen im Interesse der Einheit – das ist Widersinn; aber dieser Widersinn ist hier zum Prinzip erhoben und tritt auf in der Form des Biblischen und Heiligen“ (S. 69).

Gustav NagelNagel betonte dagegen, „daß Menschen, die als wahrhaft wiedergeboren sich bekennen und bewähren, zu schrankenloser Geistesgemeinschaft zusammengehören“ (S. 14). Er sprach sogar davon, „die heiligen Anrechte, die wir [die Mitglieder der Freien evangelischen Gemeinden] in der Wahrheit und Liebe Christi an sie [die Geschwister der ‚Versammlung‘] haben, niemals fahren lassen“ zu wollen (S. 14), um Anteil zu haben „an allem, was der Herr der Gemeinde auch jenen Brüdern geschenkt und in ihrer Mitte gewirkt hat. [...] Als Glieder eines Leibes möchten wir einander Handreichung tun, und wir möchten Handreichung empfangen“ (S. 20f.).

Nagel formulierte zugespitzt: „Man beruft sich laut und eifrig auf die Einheit des Leibes Christi, und man macht im Namen der Einheit die Gemeinschaft mit seinen Brüdern zu einer Unmöglichkeit. Man behandelt diese für das Gemeinschaftsleben der Kinder Gottes köstlichste und reichste Wahrheit so, daß genau das Gegenteil von dem dabei herauskommt, was diese Wahrheit wirken und schaffen will“ (S. 61). Er stellte als Schlussfolgerung die grundlegende Frage, „ob nicht doch die Behandlung der Lehre von der Einheit eine verfehlte ist, ob ihr nicht tatsächliche Irrtümer zugrunde liegen, wenn sie das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken soll“ (S. 11), und versuchte zu belegen, „daß Lehre und Praxis der ‚Versammlung‘ sich mit dem Wort und der Praxis der Schrift nicht deckt“ (S. 39).

Zudem hielt er fest: „Die ‚Versammlung‘ glaubt, durch die Ablehnung aller Namen und Bekenntnisse die Ursachen der Zertrennung hinweggetan zu haben. Sie glaubt, daß die Einheit der Gläubigen nur auf dem von ihr betretenen Boden verwirklicht werden könne“ (S. 58). Doch gelte: Auch wenn die „Versammlung“ „alle anderen religiösen Versammlungen und Gemeinschaften rücksichtslos als ‚menschliche Systeme‘“ ablehne, sei sie „selbst durch ihre ganze Art zu einem System geworden, wie es so kein zweites mehr gibt“ (S. 81), denn „die Darbysche Literatur setzt ihr Lehrsystem, gerade wie der Katholizismus, dem Gesamtgehalt des Willens und der Wahrheit Gottes völlig gleich. Das Neue Testament selber wird der ‚Versammlung‘, so wie sie es auffaßt, zu einem Kirchenordnungsbuch, das nur eine Form zuläßt, nämlich die ihre, und alle anderen verurteilt und ausschließt. Die Heilige Schrift läßt große Mannigfaltigkeit und einen Reichtum von Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der gläubigen Gemeinden zu. Die ‚Versammlung‘ aber überträgt ihr strenggeschlossenes, einförmiges Programm mit den radikalsten Mitteln, mit den Mitteln der unbedingten Scheidung von allen anderen Gläubigen in die Wirklichkeit“ (S. 82f.).

Nagels Publikation wurde kurz darauf von Konrad Bussemer durch einen Artikel unter der Überschrift „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart. Einige Bemerkungen zu der neuesten Broschüre des Br. G. Nagel“ im Gärtner ergänzt.16 Bussemer fasste zunächst kurz und knapp Nagels Hauptargumente zusammen und hob dessen „prinzipielle und unpersönliche Kampfesweise“ (S. 125), d.h. den die Grundlinien in den Vordergrund und persönliche Angriffe in den Hintergrund stellenden Stil des Verfassers hervor. Er forderte anschließend die Vertreter der „Versammlung“ zu einer öffentlichen Reaktion auf Nagels Veröffentlichung auf: „Ihr Brüder seid das uns schuldig, ihr seid es dem Herrn schuldig!“ (S. 125).

In der Tat gab es rasch eine öffentliche Reaktion seitens der „Christlichen Versammlung“: Bernhard Kochs Als Manuskript gedruckter Brief an den Verfasser der Schrift „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart“ vom Mai 1913. Kochs Brief gehört insgesamt gesehen weder argumentativ noch stilistisch zu den besonders hervorzuhebenden Elementen des Schriftenstreits. Der Barmer „Bruder“ hob etwa deutlich hervor, eigentlich sei aus seiner Sicht „alles Reden und Schreiben nutzlos“, solange „die Stellung der Brüder vom Parteistandpunkte aus beurteilt und bekämpft werde“, und zwar „als Partei“ (S. 9).

Damit sprach Koch das kommunikative Grundproblem des Schriftenstreits an: Das Selbstverständnis der „Versammlung“, keine „Partei“, also keine Gemeinde oder Kirche zu sein, sondern der Versuch, außerhalb aller „Zäune“ (S. 8) „die von Gott gemachte Einheit [aller Gläubigen] zu verwirklichen und [...] äußerlich zur Darstellung zu bringen“ (S. 3), wurde außerhalb der „Versammlung“ nicht im Geringsten geteilt. Damit war es vorprogrammiert, dass die Argumentationsebenen der Kontrahenten nie ganz deckungsgleich waren.

Während die Autoren der „Versammlung“ vor allem ihren theoretischen Anspruch in den Mittelpunkt stellten, be- und verurteilten die Vertreter der Gegenseite vor allem die negativen praktischen Folgen dieser Annahme – was wiederum die „Brüder“ aus ihrer Sicht plausibel erklären konnten. So schrieb Koch zum Vorwurf der unbiblischen Trennung von anderen Gläubigen: „Die Brüder separieren sich nicht von den Gläubigen [...], wohl aber separieren sich diejenigen Gläubigen, welche hinter den von ihnen errichteten ‚Zäunen‘ und in ihren ‚Lagern‘ bleiben“ (S. 11).

Es folgten zwei weitere Stellungnahmen der Freien evangelischen Gemeinden:

Als Gerüchte auftauchten, Gustav Nagel habe sich zwischenzeitlich von seiner Veröffentlichung Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart distanziert, gab dieser im Gärtner17 eine kurze Erklärung ab, um einer „Legendenbildung“ zuvorzukommen. Er bekenne sich, so stellte er eindeutig klar, nach wie vor zu dem Gesamtinhalt seiner Schrift, bis ihm plausible Gegenargumente auf Basis der Bibel mitgeteilt würden.

Kurz darauf meldete sich Konrad Bussemer noch einmal in einem Artikel18 zu Wort, in dem er direkt auf Kochs offenen Brief Bezug nahm. Er äußerte die Einschätzung, dass sich eine „längere Besprechung“ erübrige (S. 253). Für Koch sei es „von vorneherein ausgemacht, was er erst noch beweisen soll, daß die sog. ‚Versammlung‘ das einzige Heilmittel gegen die Zerrissenheit des Volkes Gottes ist; wer das nicht einsieht, – das steht dem Br. Koch auch von vorneherein fest, – der ist eben ein Parteimann [...], der betrachtet die Sache vom Parteistandpunkt aus, die ‚Versammlung‘ allein ist keine Partei. An den Beweisen für das alles läßt er es mangeln; das, was er beweisen soll, ist ihm Voraussetzung“ (S. 253).

Den letzten Beitrag der „Brüder“ im Schriftenstreit stellte Rudolf Brockhaus’ Veröffentlichung Die Einheit des Leibes Christi – Ein Wort in Erwiderung auf die Schrift von G. Nagel: „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart“ aus dem Jahr 1913 dar.19 Im Unterschied zu seiner ersten Stellungnahme reagierte Brockhaus diesmal explizit auf die vorgebrachten Gegenargumente und Vorwürfe. So betonte er etwa, die ihm vorgeworfene Homogenität der Lehre und Praxis der „Versammlungen“ sei nicht zentral vereinheitlicht, sondern es sei festzuhalten, dass allein „der Geist Gottes solche Übereinstimmung wirkt“ (S. 9). Nagels Hinweis auf die zahlreichen Spaltungen gerade in den Kreisen der „Brüder“, die wie keine andere Gemeinschaft die Einheit der Gläubigen betonen, relativierte Brockhaus mit der dogmatischen Einschätzung, „Mangelhaftigkeit in der Ausführung“ ändere „nichts an der Richtigkeit eines Grundsatzes, des Menschen Untreue nichts an der Wahrheit Gottes“ (S. 25f.).

Brockhaus erläuterte erneut seinen zentralen Punkt: Die „Zerrissenheit“ der Gläubigen in verschiedene Gruppierungen entspreche nicht dem Willen Gottes und das einzige „Heilmittel“ sei in der „rückhaltlosen Umkehr zu dem, ‚was von Anfang war‘“, zu sehen, „in dem Sichscharen um Jesum allein unter Aufgabe aller menschlichen Namen, Einrichtungen &c.“ (S. 14). „Aus diesem einfachen Grunde können die ‚Brüder‘ die Benennungen nicht anerkennen und müssen sich – nicht von den Gläubigen, wie ihnen immer wieder vorgeworfen wird, – sondern von den Einrichtungen, in welchen jene sich befinden, abgesondert halten. Das daraus hervorgehende praktische Getrenntsein von vielen lieben Kindern Gottes und die Beeinträchtigung des gegenseitigen gesegneten Dienstes der Liebe fühlen und beklagen sie tief. Aber es liegt nicht in ihrer Macht, die Ursachen in Gott wohlgefälliger Weise zu entfernen. Sie können Ihn nur bitten, daß Er ihnen helfe, in Anerkennung der eigenen großen Mangelhaftigkeit, ihren Geschwistern gegenüber ein weites Herz zu bewahren, und daß Er diesen Licht und Gnade schenke, die von ihnen errichteten Schranken zu beseitigen“ (S. 16f.).

Brockhaus hob hervor, die „Brüder“ seien der Ansicht, „ihrerseits auch alles hinweggetan zu haben, was andere Kinder Gottes hindern könnte, Gemeinschaft mit ihnen zu machen“ (S. 18). „Sie verlangen nicht, dass andere sich ihnen, oder ihrem Kreise oder ihrer Gruppe anschließen, daß sie ihre Lehrmeinungen in jeder Beziehung anerkennen, sondern möchten nur, daß jene den eignen Sonder- und Parteistandpunkt aufgeben“ (S. 18f.).

Beinahe resignativ äußerte Brockhaus im letzten Beitrag der „Christlichen Versammlung“ zum Schriftenstreit seine Einschätzung, „bei einer nochmaligen Behandlung der betreffenden Teile der Wahrheit“ könne „nur immer wieder mit anderen Worten dasselbe gesagt werden“ (S. 29). In der Tat bestand die beschriebene Stellungnahme zu großen Teilen aus Zitaten aus anderen, auch eigenen, Schriften oder aus Verweisen darauf. Für Brockhaus war der Schriftenstreit an einem Punkt angelangt, an dem klar geworden war: „Der Gegensatz zwischen der Auffassung von Br. Nagel und der der ‚Brüder‘ über die Darstellung der Einheit des Leibes Christi ist so unüberbrückbar und zeigt sich naturgemäß auch in den beiderseitigen Anschauungen hinsichtlich der Stellung der örtlichen Versammlungen so schroff, daß es verlorene Mühe wäre, viele Worte über diesen Punkt zu sagen“ (S. 58). Es bleibe „nichts anderes übrig, als dem Leser die Entscheidung zu überlassen, wer recht und wer unrecht hat“ (S. 59).


2.4. Schlussphase des Schriftenstreits

Der Schriftenstreit endete, da sich die Vertreter der „Christlichen Versammlung“ aus dem öffentlichen Dialog ausgeklinkt hatten, mit mehreren abschließenden Publikationen seitens der Freien evangelischen Gemeinden.

Zunächst reagierte Konrad Bussemer in einem Artikel auf „Die Schrift des Bruder Rud. Brockhaus gegen Bruder Gust. Nagel“.20 Bussemer kritisierte in scharfer Weise, die letzte Veröffentlichung von Rudolf Brockhaus zeige ein ungeheures „Unfehlbarkeitsbewußtsein“, also ein Gleichsetzen der eigenen Anschauungen mit den in der Bibel festgehaltenen göttlichen Grundsätzen, was ansonsten nur bei dem „Papst in Rom“ zu beobachten sei (S. 318f.). Leider gebe es „genug Leute“, die „sich durch solche selbstbewußte Art imponieren lassen“ (S. 324). Bussemer betonte, „daß manche Behauptungen, die Br. Brockhaus über die sog. ‚Versammlung‘ aufstellt, theoretisch sehr schön und gewinnend lauten, in der Praxis aber nicht zutreffen“ (S. 326). Der Aussage, man könne bei den „Brüdern“ nicht Mitglied werden, da „kein geschlossener Kreis, kein Verein mit Vorstand, Mitgliedern usw. bestehe“, hielt Bussemer entgegen, dass es „auf dem ganzen christlichen Boden keinen geschlosseneren Kreis als den der sog. ‚Versammlung‘“ gebe (S. 326). Süffisant fasste Bussemer zusammen: „Es will uns scheinen, als ob die Vertreter der ‚Versammlung‘ es aufs beste verständen, wenn sie an einer Seite angefaßt werden, sich mit erstaunlicher Kunst zu drehen und zu winden. Sie reden dann, als ob alles nur auf Mißverständnissen beruhe, sie sprechen von Verleumdungen, von falschen Auffassungen, und markieren die Märtyrer, die an dem Widerspruch, der gegen sie erhoben wird, ganz unschuldig sind; es ist eben nur die fleischliche Feindschaft und der böse Wille, daß man uns so schlecht versteht, so sagen sie“ (S. 326).

Gustav Ischebeck1914 veröffentlichte Gustav Ischebeck21 (1863–1937) die Broschüre Hat „Die Versammlung“ recht? Eine Antwort auf die Schrift von R. Brockhaus: „Die Einheit des Leibes Christi“. Ischebeck verwies neben der Herausarbeitung mancher Parallele zwischen der römischen Kirche und der „Versammlung“ insbesondere unter Hinweis auf Matthäus 7,16 („An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“) darauf, dass die „Brüder“ sich untereinander bereits in zahllose Splittergruppen getrennt hätten, welche jeweils für sich in Anspruch nähmen, „am rechten Platz“ zu sein, die „Darstellung der Einheit“ zu sein. Ischebeck spöttelte, da die Darbysten in England in 15–20 Parteien zerteilt seien, verstehe man gut, „warum die Elberfelder Gruppe immer in Verlegenheit kommt, wenn darbystische ‚Vertreter der Einheit‘ von dort nach Deutschland kommen“ (S. 10). Er bezeichnete vor dem Hintergrund dieser „praktischen Ergebnisse“ die Annahme, die Zersplitterung aller Gläubigen sei erst behoben, wenn alle Christen „außerhalb der Versammlung zu ihr übertreten“, als „Selbsttäuschung“ (S. 13). Ironisch fragte er, welcher der Splittergruppen man sich denn nun überhaupt anschließen müsse (S. 6).

Rudolf Brockhaus, der sich nach der Publikation der Broschüre Die Einheit des Leibes Christi einer weiteren öffentlichen Stellungnahme zum Schriftenstreit enthielt, sich jedoch in den Jahren 1913 und 1914 zunächst noch brieflich mit Friedrich Kaiser und Gustav Nagel austauschte,22 stellte nach den eher polemischen Veröffentlichungen von Bussemer und Ischebeck jeden weiteren Gedankenaustausch mit Vertretern der Freien evangelischen Gemeinden ein.23

Der Schriftenstreit klang schließlich aus, wie er begonnen hatte: mit einer Publikation von Friedrich Kaiser. Dieser veröffentlichte 1915 „unter Berücksichtigung der Einwendungen gegen die Ausführungen der ersten Auflage“ eine veränderte und erweiterte Neuauflage seiner Streitschrift, die 1911 den Schriftenstreit eröffnet hatte. Kaiser, der damit der Diskussion insgesamt keine wesentlichen neuen Impulse verleihen konnte, fasste seine Position abschließend folgendermaßen zusammen: „Es ist meine Ueberzeugung auf Grund der Heiligen Schrift, daß die Gotteskinder der verschiedenen Kirchen, Gemeinden, Gemeinschaften usw., ruhig in diesen bleiben können, falls ihnen Gottes Wort nicht bestimmt zeigt, daß sie einen anderen Platz einzunehmen haben. Alle, die gemäß der Erkenntnis, die sie aus Gottes Wort gewonnen haben, treu und aufrichtig im heiligen Geist vor ihrem Herrn wandeln, und es mit der Tat beweisen, daß sie das gesamte Gottesvolk in Jesu ihrem Heiland lieben, versammeln sich ohne Zweifel im Namen des Herrn und nehmen den rechten Platz ein“ (S. 5, auch S. 29). Die Position der „Brüder“ wies Kaiser ab mit der Einschätzung, „daß das, was man hier andern immer wieder aufdrängen will als besondere Wahrheit, nur menschliche Meinungen sind“ (S. 4). Es tue ihm „wirklich leid, daß die Versammlung so viele Mühe verwendet auf eine vergebliche Sache und dabei das Gemeinschaftsverhältnis in den verschiedenen gläubigen Kreisen häufig stört! Man jagt einem Trugbild nach! Das Gegenteil von dem, was erreicht werden soll, wird erreicht“ (S. 78f.).


2.5. Resümee

Rolf-Edgar Gerlachs Einschätzung, „die ganze Auseinandersetzung dieses sogenannten Schriftenstreits“ erscheine „im Nachhinein sehr unerquicklich und überflüssig“,24 ist nur bedingt zuzustimmen. Zwar trifft Gerhard Jordys Urteil zu, die Autoren (insbesondere Nagel und Brockhaus) hätten „aneinander vorbeigeschrieben, weil sie in dem, was [...] für biblische Wahrheit gehalten wurde, von grundsätzlich unterschiedlichen Voraussetzungen ausgingen. Während Nagel die nur aus Gläubigen bestehende neutestamentliche Gemeinde vertrat, die so unabhängig, so ‚frei‘ war, im Blick auf die Einheit der Kinder Gottes keine konfessionalistischen Zäune aufzurichten, lehnte Brockhaus schon eine solche Gemeindebildung als Menschenwerk und Verstoß gegen die Einheit des Leibes Christi ab“.25 Grafe hatte, wie Kurt Seidel prägnant konstatiert, „einen ekklesiologischen Spagat vollzogen, um die Einheit der Kinder Gottes sichtbar zu machen: Als Ausdruck der Universalkirche hat er eine Partikularkirche gegründet“.26

Auch wenn inhaltlich kein Konsens erreichbar war und in der Tat der Ton der Auseinandersetzung mitunter die Grenzen des guten Geschmacks hinter sich ließ, diente der Schriftenstreit letztlich doch mindestens zur deutlicheren Herausarbeitung der unterschiedlichen Ansichten sowie der jeweiligen Selbstvergewisserung und Festigung in den eigenen Reihen. Als Resümee bleibt somit festzuhalten, dass der Schriftenstreit vielleicht eine Klärung, jedoch keine Annäherung der Positionen bewirkte.

Nicht zu unterschätzen ist aber auch die langfristige und andauernde Wirkung der Veröffentlichungen. Die im Schriftenstreit von Seiten der „Christlichen Versammlung“ beschriebenen Positionen werden in Kreisen der „geschlossenen Brüder“ bis heute unverändert tradiert27 und zählen weiterhin zu ihren konstitutiven Elementen. Damit wird sich weiterhin jede Generation der „geschlossenen Brüder“ nahezu zwangsläufig ebenfalls den im Schriftenstreit bereits gebündelt diskutierten kritischen Fragen zu ihrem Gemeindeverständnis stellen müssen – ob diese Nachfragen nun aus der eigenen Mitte kommen oder von außen an sie herangetragen werden. Da kann es unter Umständen für alle Beteiligten von Nutzen sein, bereits durchdachte und strukturiert formulierte Positionen zu einem Vergleich heranzuziehen und die von beiden Seiten vorgebrachten Argumente anhand der Bibel auf ihre Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft zu überprüfen.


3. Das Verhältnis nach dem Schriftenstreit

In seinem kurz nach Ende des Schriftenstreits erschienenen Buch Die evangelischen Freikirchen Deutschlands. Ein Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte (Bonn 1916) subsumierte Oskar Büttner unzutreffenderweise die „Versammlung“ als Untergruppe den Freien evangelischen Gemeinden. Er betonte, es sei die Aufgabe der Freien evangelischen Gemeinden, „sich in ihrer köstlichen Weitherzigkeit dieser manchmal recht exponiert stehenden Kreise in Liebe anzunehmen, [sie] in geordnetes Gemeindeleben zu bringen und [ihnen] biblische Weitherzigkeit und viel Liebe zu vermitteln“ (S. 339f.). Diese Einschätzung ging natürlich deutlich an der Realität vorbei. Dennoch: Auch wenn das während des teilweise hitzig und persönlich geführten Schriftenstreits wohl niemand vermutet hätte, näherten sich zwei Jahrzehnte später im Dritten Reich die „Christliche Versammlung“ und die Freien evangelischen Gemeinden überraschenderweise so sehr an, dass sie tatsächlich kurz davor standen, in einem gemeinsamen Bund aufzugehen.

Als 1937 die „geschlossenen“ Brüderversammlungen vom nationalsozialistischen Regime verboten wurden, gründeten sie eine neue Struktur mit klaren Verantwortungsträgern gegenüber dem Staat, genannt „Bund freikirchlicher Christen“ (BfC) – nur wenige „Nichtbündler“ verweigerten sich aus ihrer Überzeugung heraus diesem Bund, der sich inhaltlich klar vom „exklusiven Darbysmus“ distanzierte. Nachdem sich 1937 auch die „offenen Brüder“ dem BfC angeschlossen hatten, führten die „Brüder“ im Rahmen größerer Einigungsbestrebungen (die gleichermaßen theologischen Zielen wie politischen Absicherungsbemühungen geschuldet waren) Gespräche u.a. mit den Freien evangelischen Gemeinden und dem Bund der Baptisten zwecks Bildung einer Einheitsorganisation verschiedener, wenn nicht sogar aller evangelischen Freikirchen. Letztlich schloss sich der BfC 1942 jedoch nur mit den Baptistengemeinden zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) zusammen.28

Seit der Nachkriegszeit kann man zwischen der Brüderbewegung und den Freien evangelischen Gemeinden von einem neutralen bis entspannten Verhältnis reden. Offene Teile der Brüderbewegung, vor allem die Gemeinden im BEFG, kooperieren in Einzelfällen sogar in gewissem Rahmen mit Freien evangelischen Gemeinden. Zu den „geschlossenen Brüdern“, die die im Schriftenstreit kritisierten Positionen der „Christlichen Versammlung“ weiter unverändert betonen, haben die Freien evangelischen Gemeinden trotz klarer inhaltlicher Differenzen keine Abgrenzungsbedürfnisse mehr, da die den Schriftenstreit auslösenden Übertritte von Mitgliedern zu den „Brüdern“ seit langem Seltenheitswert besitzen –Abwanderungsbewegungen Einzelner sind eher in die andere Richtung zu beobachten. Die „geschlossenen Brüder“ ihrerseits behandeln in ihrem Schriftgut die Freien evangelischen Gemeinden ebenfalls nicht besonders intensiv oder hervorgehoben, da für diese der pauschale Vorwurf, den sie wie oben beschrieben an alle „Benennungen“ und Gemeinschaften richten, nicht mehr und nicht weniger als für die übrigen gilt; ein Anlass zu gesonderter Auseinandersetzung existiert nicht mehr.

Hervorzuheben ist jedoch der bedeutsame Beitrag, den Vertreter der Freien evangelischen Gemeinden seit Jahrzehnten zur Brüdergeschichtsschreibung geleistet haben. Da ihre eigene Geschichte an vielen Stellen eng mit der Geschichte der „Versammlung“ verwoben ist, haben sich Forscher der Freien evangelischen Gemeinde neben der Geschichte ihrer eigenen Freikirche immer wieder auch intensiv und kundig mit der Vergangenheit und Gegenwart der Brüderbewegung beschäftigt. Zu erwähnen ist hier etwa die Darby-Biografie von Gustav Ischebeck aus dem Jahr 1929 (John Nelson Darby – Seine Zeit und sein Werk) sowie die zahlreichen Veröffentlichungen des pensionierten FeG-Pastors August Jung (z.B. Julius Anton von Poseck. Ein Gründervater der Brüderbewegung aus dem Jahr 2002).

Nicht zuletzt belegt ein Artikel aus dem Jahr 2005, in dem der Referent für Öffentlichkeitsarbeit im Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, Arndt Schnepper, „über den Umbruch der darbystischen Kreise in Deutschland“ berichtet, dass die Freien evangelischen Gemeinden ihrem zeitweise vielleicht stärksten „Konkurrenten“ aus der Beobachterperspektive immer noch ein gewisses Interesse entgegenbringen.

Ulrich Müller

[auch erschienen in: Freikirchenforschung 17 (2008), S. 275–289]


Anmerkungen:

[1] Rezensent in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, XIX. Band, S. 504; von Lichtenberg zitiert in: Sudelbücher, Heft D, Nr. 262.

[2] August Jung geht in seinem Buch Als die Väter noch Freunde waren. Aus der Geschichte der freikirchlichen Bewegung (Wuppertal/Kassel/Witten 1999) näher auf diese sog. „darbystische Krise“ ein und korrigiert in Teilen die bisherige Geschichtsschreibung.

[3] Hartmut Lenhard: Studien zur Entwicklung der Ekklesiologie in den Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland (Diss. Bonn), Bielefeld 1977, S. 264. Vgl. zu dieser Thematik auch Michael Schröder: „Freie evangelische Gemeinden als Modell der Einheit in Christus – Anspruch und Wirklichkeit“, in: Wilfried Haubeck, Wolfgang Heinrichs, Michael Schröder (Hrsg.): Einheit in Christus – Anspruch, Wirklichkeit und Perspektiven, Theologische Impulse 9, Witten 2004, S. 33–59.

[4] Hartmut Lenhard, a.a.O., S. 206. Vgl. zu dieser Thematik auch Hartmut Weyel: „Einzelgemeinde und Bund – Eine offene Beziehung in der Geschichte Freier evangelischer Gemeinden“, in: Theologisches Gespräch 25 (2001), Beiheft 2 („Was ist der Bund ...?“ Beiträge zu einer Theologie des Gemeindebundes), S. 69–99.

[5] [Konrad Bussemer u.a.:] Die Gemeinde Jesu Christi. Das Wesen der Gemeinde Jesu nach dem Neuen Testament besonders hinsichtlich ihrer Glieder u. ihrer Ordnungen, zweite vermehrte Auflage, Witten/Ruhr 1907, S. 75.

[6] Gerhard Jordy: Die Brüderbewegung in Deutschland, Band 2: 1900–1937, Wuppertal 1981, S. 61.

[7] Erich Geldbach: Rezension von Wilfried Haubeck, Wolfgang Heinrichs, Michael Schröder (Hrsg.): Einheit in Christus – Anspruch, Wirklichkeit und Perspektiven, in: Freikirchenforschung 15 (2005/06), S. 403.

[8] Rolf-Edgar Gerlach: Carl Brockhaus – ein Leben für Gott und die Brüder, Wuppertal/Zürich 1994, S. 231.

[9] Vgl. z.B. Rolf-Edgar Gerlach, a.a.O., S. 231f., der aber auch dokumentiert, dass die Freie evangelische Gemeinde Elberfeld-Barmen der Brüdergemeinde Elberfeld von 1859 bis 1873 gestattete, ihre Verstorbenen auf dem Friedhof der Freien evangelischen Gemeinde zu bestatten. Nach 1873 wurde ihnen das Mitbestattungsrecht wegen Platzmangels entzogen.

[10] Hartmut Lenhard, a.a.O., S. 269.

[11] Gerhard Jordy, a.a.O., S. 61. Ähnlich Friedrich Kaiser: Ist die sogenannte Versammlung (darbystische) in ihren Lehren und Einrichtungen biblisch? Zweite veränderte und erweiterte Auflage, unter Berücksichtigung der Einwendungen gegen die Ausführungen der ersten Auflage, Bonn 1915, S. 74.

[12] Ulrich Bister (Die Brüderbewegung in Deutschland von ihren Anfängen bis zum Verbot des Jahres 1937 – unter besonderer Berücksichtigung der Elberfelder Versammlungen, Diss. Marburg 1983, S. 144, Fußnote 10) datiert den Beginn des Schriftenstreits bereits einige Jahre früher. Diese Ansicht ist jedoch nicht zwingend; die in den von ihm genannten Schriften enthaltenen Bezüge gehen – auch wenn sie natürlich eine Vorstufe des Schriftenstreits darstellen – über eingestreute Seitenbemerkungen in Richtung „Christliche Versammlung“ nicht hinaus. Kaisers Schrift dagegen stellt erstmalig eine umfangreiche explizite Auseinandersetzung mit dem Gemeindebegriff der „Brüder“ dar.

[13] Hans Diebel: Gott die Ehre in der Gemeinde – 125 Jahre Freie evangelische Gemeinde Bonn (1862–1987), Bonn 1987, S. 33.

[14] Die einzelnen Kapitel erschienen zuerst anonym als Artikelserie im Botschafter des Heils in Christo 59 (1911), S. 296–308, 320–333; 60 (1912), S. 12–27, 37–44, 68–83, 128–138, 151–164, 184–192, dann (leicht überarbeitet) in drei Broschüren (Die Versammlung oder Gemeinde, Elberfeld 1911; Die Versammlung, das Haus Gottes und der Leib Christi, Elberfeld 1912; Älteste und Diener, Elberfeld 1912) und schließlich wie oben angegeben als Gesamtausgabe in Buchform.

[15] „Christus, das Fundament und der Erbauer der Gemeinde. (Eine notgedrungene Erwiderung an Br. R. Brockhaus, Elberfeld von Konr. Bussemer, Lüdenscheid.)“, in: Der Gärtner 20 (1912), S. 280–284.

[16] K[onrad] B[ussemer]: „Die Zerrissenheit des Gottesvolkes in der Gegenwart. Einige Bemerkungen zu der neuesten Broschüre des Br. G. Nagel“, in: Der Gärtner 21 (1913), S. 124–126.

[17] Der Gärtner 21 (1913), S. 228. Weitere Hinweise auf diese Gerüchte finden sich rückblickend in der Leserzuschrift „Über den Darbysmus“ in Der Gärtner 41 (1933), S. 327.

[18] Konr[ad] Bussemer: „Zum Thema: Zerrissenheit des Gottesvolkes“, in: Der Gärtner 21 (1913), S. 253f.

[19] Für Aufregung sorgte im Nachhinein, dass Brockhaus in dieser Schrift (S. 30–32) irrtümlich einen Brief des Schweizers Auguste Rochat (bis zu seinem Tod 1847 Pastor einer Freien evangelischen Gemeinde am Genfer See) Darby zuschrieb und als Beleg für dessen Demut anführte. Schon bevor Ischebeck 1914 ankündigte, Brockhaus wolle „selbst den wahren Tatbestand bekanntgeben“ (Hat „Die Versammlung“ recht?, S. 23f.), gab Brockhaus den „Irrtum“ offen zu. Er legte seiner Publikation bereits ab Dezember 1913 einen Korrekturzettel bei, auf dem er den Sachverhalt richtigstellte und sein Bedauern ausdrückte. Vgl. zu dieser Diskussion auch die Leserzuschrift „Über den Darbysmus“ in Der Gärtner 41 (1933), S. 327 sowie den „Briefkasten des Schriftleiters“ in Der Gärtner 41 (1933), S. 402.

[20] K[onrad] B[ussemer]: „Die Schrift des Bruder Rud. Brockhaus gegen Bruder Gust. Nagel“, in: Der Gärtner 21 (1913), S. 318f., 324–326.

[21] Die Broschüre erschien im Original anonym und ohne Jahresangabe. Der Zeitzeuge Walther Hermes schreibt sie Gustav Ischebeck zu (Hermann Heinrich Grafe und seine Zeit, Witten 1933, S. 142, Fußnote), was die meisten späteren Autoren übernehmen. Nur Ulrich Bister nennt abweichend Friedrich Kaiser als Autor (a.a.O., S. 217).

[22] Vgl. Ulrich Bister, a.a.O., S. 157f. Es gab 1913 auch zumindest ein persönliches Treffen zwischen Nagel und Brockhaus, an dem auch Emil Dönges teilnahm; vgl. Die Einheit des Leibes Christi, S. 21, Fußnote; Leserzuschrift „Über den Darbysmus“, in: Der Gärtner 41 (1933), S. 327; „Briefkasten des Schriftleiters“, in: Der Gärtner 41 (1933), S. 402.

[23] Ulrich Bister, a.a.O., S. 158.

[24] Rolf-Edgar Gerlach, a.a.O., S. 235.

[25] Gerhard Jordy, a.a.O., S. 65.

[26] Kurt Seidel, Freie evangelische Gemeinde im Spiegel ihrer biblischen Vorbilder (Vortrag vom 3.9.1995 in Haiger), hrsg. von der Hessischen Predigerkonferenz, 1996, S. 20; zitiert nach Michael Schröder, a.a.O., S. 33.

[27] So ist etwa Brockhaus’ erste Entgegnung im Rahmen des Schriftenstreits, Die Versammlung des lebendigen Gottes, seit 1993 wieder in einer Neuausgabe erhältlich (CSV Hückeswagen); sein zweiter Beitrag, Die Einheit des Leibes Christi, wird von Manuel Seibel auf www.bibelpraxis.de als „eine Art Standardwerk“ „von besonderer Güte“ bezeichnet.

[28] Vgl. dazu u.a. Gerhard Jordy: Die Brüderbewegung in Deutschland, Band 3: Die Entwicklung seit 1937, Wuppertal 1986, S. 158ff., 198ff.; Andreas Liese: verboten – geduldet – verfolgt. Die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung, Hammerbrücke 2002, S. 304f., 399ff.

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