Spezifische Merkmale der Brüderbewegung

Vortrag von Karl-Heinz Vanheiden (Dillenburg, 18. Oktober 2003)


Als unser Herr einmal über sein Wiederkommen sprach, begann er die folgende Geschichte:

„Es ist wie bei einem Mann, der vorhatte, ins Ausland zu reisen. Er rief seine Sklaven zusammen und vertraute ihnen sein Vermögen an, so wie es ihren Fähigkeiten entsprach. Einem gab er fünf Talente, einem anderen zwei und noch einem anderen eins. Dann reiste er ab.“ (Mt 25,14ff. nach der Neuen evangelistischen Übertragung)

Der Mann in der Geschichte hatte seinen Sklaven riesige Geldsummen anvertraut. Ein Talent entsprach dem Lohn für etwa 20 Jahre Arbeit. Einer der Sklaven bekam sogar das Fünffache davon, weil sein Herr ihm zutraute, vernünftig damit wirtschaften zu können. Wenn der Herr zurückkäme, sollten alle Sklaven Rechenschaft vor ihm ablegen.

In dieser Weise wird sich auch jeder von uns einmal fragen lassen müssen, was er mit den Talenten seines Herrn gemacht hat. Damit nun niemand in die Versuchung kommt, ein Loch in die Erde zu graben und die Gaben seines Herrn dort zu verstecken, habe ich mich bereit erklärt, euch die gemeinsamen Talente zu zeigen, die der Herr der Sorte von Sklaven anvertraut hat, die sich heute in so genannten Brüdergemeinden versammeln. Ich denke, dass nicht nur bei Einzelnen, sondern auch in Gemeindegruppen bestimmte Talente zum Vorschein kommen.

Aber keine Angst, ich will die Vergangenheit weder verklären noch kritisieren. Ich versuche nur, euch etwas von dem zu zeigen, was ich in mehr als 32 Jahren Reisedienst als Chancen von Brüdergemeinden entdeckt habe. Ich meine, es sind auch fünf Talente, die wir einsetzen können und mit denen wir arbeiten wollen, bis der Herr wiederkommt.

Was Brüdergemeinden besonders kennzeichnet, ist die absolut zentrale Stellung der


1. Anbetung des Herrn Jesus

Das ist das erste Talent, das der Auferstandene uns geschenkt hat. So wie der Apostel Thomas damals, von der Gegenwart seines auferstandenen Herrn überwältigt, sagte: „Mein Herr und mein Gott!“, rufen auch wir den Namen des Herrn Jesus an. Natürlich beten wir genauso zu Gott, dem Vater, aber das eigentliche Kennzeichen unseres Christseins ist die Anbetung des Herrn Jesus (1Kor 1,2).

Diesen Herrn anzubeten, ihn unabhängig von fest geformten Liturgien loben zu dürfen und ihm außerhalb von verstaubten Gebetsbüchern danken zu können, war auch das Anliegen jener jungen Männer, die wir heute unsere Väter nennen. Es gibt wohl keine Kirche oder Freikirche, die von vornherein so viele Anbetungslieder in den von ihnen gebrauchten Liedersammlungen hatte wie die Brüder. Und es gibt wohl auch keine Gemeindegruppe, die so bewusst wie die deutschen Brüdergemeinden den mehrstimmigen Gemeindegesang pflegt und sich nicht von Orgeln niederstimmen lassen wollte. Dabei ist nichts gegen ein Musizieren zur Ehre Gottes gesagt, aber wir wollten vor allem mit Herz und Stimme, mit Worten und Gesang den loben, „der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater!“ (Offb 1,5f.)

Meines Wissens gibt es keine Gemeindegruppe, wo sich die Gläubigen jede Woche extra dazu versammeln. Das sonntägliche Brotbrechen, die Feier des vom Herrn eingesetzten Mahls, ist ein typisches Kennzeichen von Brüdergemeinden und eine der größten Chancen, die wir haben.

Wenn das gelingt, können selbst die steifen Deutschen Tränen in den Augen haben und sich über ihren Erlöser freuen.

Ein zweites Talent unserer Gemeinden ist die große


2. Liebe zur Heiligen Schrift

Nach mehr als 150 Jahren Bibelkritik, von der keine Freikirche verschont geblieben ist, scheinen die Brüdergemeinden eine Art „Insel der Seligen“ geblieben zu sein. Hier glaubt man nach wie vor an die Kraft des Wortes Gottes, wobei freilich manche Geschwister hauptsächlich an die unrevidierte Elberfelder Übersetzung denken. Aber es ist schon sehr bemerkenswert, dass die Bewegung der Brüder eine eigene, sehr genaue Bibelübersetzung hervorgebracht hat, und zwar deshalb, weil ihre Glieder das Verlangen hatten, das Wort Gottes noch gründlicher zu studieren, als ihnen das mit der Luther-Übersetzung möglich war.

Bis heute sind es die meisten Gläubigen gewohnt, ihre Bibel zu den Zusammenkünften mitzubringen. Sie wollen alles daran prüfen, auch die Predigt. „Was sagt die Schrift?“ ist eine ihrer stehenden Redewendungen. Und sie sind aufrichtig bemüht, ihr Glauben, Denken und Leben an der Heiligen Schrift zu orientieren.

Ich bin überzeugt: Durch die große Liebe zur Heiligen Schrift und das Festhalten an ihrer göttlichen Inspiration, Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit hat Gott uns davor bewahrt, eine in Traditionen erstarrte exklusive Sekte zu werden. Wir wollen immer bereit sein, alles an der Schrift zu prüfen – auch uns selbst.


3. Einheit und Selbständigkeit

Von der Schrift her haben schon unsere Väter versucht, Gemeinde darzustellen. Und weil das Neue Testament keine Hierarchie kennt, kennen auch sie keine. Jeder Gläubige trägt Verantwortung an dem Platz, wo Gott ihn hingestellt hat. Deshalb ist keine Gemeinde einer anderen Gemeinde untergeordnet oder gar einer Kirchenleitung. Jede Gemeinde ist selbständig, sofern sie selbständig alle notwendigen Aufgaben erfüllen kann, von der Anbetung Gottes bis zur Evangelisation, von der Unterweisung der Kinder bis zur finanziellen Absicherung aller Aktivitäten.

Gleichzeitig ist in den Gemeinden aber ein starkes Bewusstsein für die Einheit des Leibes Jesu vorhanden. Man pflegt Kontakte zu benachbarten Gemeinden, trifft sich auf Konferenzen, Tagungen und Freizeiten. Außerdem erkennt man Geschwister aus anderen Freikirchen und Gemeinschaften sehr wohl als Brüder und Schwestern an.

Brüdergemeinden praktizieren diese Einheit in unterschiedlicher Form und Intensität mit anderen Gotteskindern, auch in der Allianz, distanzieren sich aber deutlich von jeder ökumenischen Kirchengemeinschaft. Schon unsere jungen Väter vor 150 Jahren haben die Gemeinschaft mit anderen Gotteskindern praktiziert, obwohl sie meinten, die Einheit des Leibes am besten am Tisch bzw. beim Mahl des Herrn darstellen zu können.

Natürlich legen wir größten Wert auf die Gemeinschaft und Einheit innerhalb der Gemeinde. Ich werde nie vergessen, wie ich nach einem Gästeabend in unserer Gemeinde einen jungen SED-Genossen fragte, was ihm am besten bei uns gefallen habe. Es war der Arbeitskollege eines unserer Brüder. Ich muss gestehen, dass ich hoffte, etwas Gutes über meine Predigt zu hören. Doch zu meiner Überraschung erwiderte er: „Am besten hat mir gefallen, wie ihr mit euren Alten umgeht!“ Dabei hatten wir überhaupt nichts Besonderes getan. Es war die normale Atmosphäre von Liebe und Gemeinschaft bei uns.


4. Das Priestertum aller Gläubigen

Das starke Bewusstsein für das Priestertum aller Gläubigen ist das vierte Talent, das Gott uns geschenkt hat. Es ist uns klar, dass Gott schon im Alten Testament ein ganzes Volk von Priestern haben wollte. Doch erst im Zeitalter der Gemeinde wurde das möglich. Und verwirklicht haben es nur ganz wenige Gemeinden.

Es gibt wohl keine Gemeindegruppe, in der sich so viele Gläubige aktiv an den Aufgaben der Gemeinde beteiligen. Das beginnt in der Sonntagsschule, führt über Jungschar- und Jugendarbeit bis hin zu den Versammlungen der Gemeinde. Normalerweise sind viele an der Gestaltung der Zusammenkünfte beteiligt. Sie praktizieren ihre Gaben in den Ordnungen, die die Schrift vorgibt. Und es haben viele Gelegenheit, sich zu beteiligen, ob in der Bibelstunde, im Predigtgottesdienst oder beim Mahl des Herrn. Ich habe es bisher von keiner anderen Gemeindegruppe gehört, dass mehrere Brüder sich die Wortverkündigung am Sonntag teilen, wie es in Brüdergemeinden häufiger vorkommt.

Zum Priestertum aller Gläubigen gehört auch die bruderschaftliche Leitung der Gemeinde. Nicht ein Pastor oder Gemeindeleiter regelt die Dinge, sondern ein Bruderkreis oder eine Ältestenschaft, die dabei den Herrn um seine Führung bittet.


5. Heilsgeschichte und Hoffnung

Das fünfte Talent, das der Herr uns anvertraut hat, ist das Bewusstsein für die Heilsgeschichte und die lebendige Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn. Die jungen Männer am Anfang der Brüderbewegung interessierten sich stark für das prophetische Wort der Heiligen Schrift. Sie studierten es zu Hause und auf Konferenzen. Dabei bekamen sie einen Blick für die biblische Heilsgeschichte. Sie verstanden, dass es wichtig ist, Israel und Gemeinde in der Bibel zu unterscheiden. Man kann doch nicht – salopp gesagt – die Verheißungen Israels auf die Gemeinde übertragen und die Flüche bei den Juden lassen.

Das Bewusstsein für die Heilsgeschichte und ihre Haushaltungen hat nicht nur die Brüdertheologie stark geprägt, sondern die ganze evangelikale Welt. Das geschah vor allem durch den Einfluss der Scofield-Bibel. Man muss auch sagen: Das Bewusstsein für die Heilsgeschichte ist bei den Brüdern viel stärker ausgeprägt als das Bewusstsein für ihre eigene Geschichte.

Wer über Heilsgeschichte nachdenkt, denkt natürlich auch an die Vollendung dieser Geschichte. Er hat also einen Blick für die Zukunft. Die Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn belebte die Gläubigen in den Brüdergemeinden. Sie war der Inhalt ihrer Gebete, erfüllte die Predigten ihrer „dienenden Brüder“, war Thema in den Bibelstunden und manchmal auch in ihren theologischen Auseinandersetzungen.

So war es für unsere Glaubensväter zum Beispiel immer eine Gewissheit, dass Israel in sein verheißenes Land zurückkehren würde. Sie haben mit dem Unfassbaren gerechnet und sich – sofern sie es erleben durften – natürlich sehr über das Eintreten der jahrtausendealten Verheißung gefreut, was jetzt auch schon 55 Jahre zurückliegt.


Natürlich sind das noch nicht alle Talente, die unser Herr den Brüdergemeinden anvertraut hat. So hat uns Gott auch einen Blick für Außenmission gegeben. Kaum eine Gemeindegruppe hat im Verhältnis zu ihrer Zahl so viele Missionare im Ausland. Auch durch ihre Literaturarbeit, durch Zeitschriften, Bücher und Traktate haben die Brüder weit über ihre Gemeinden hinaus gewirkt, und zwar in Lehre und Evangelisation. Doch ich wollte diese fünf herausstellen, weil sie in der evangelikalen Welt ziemlich einzigartig sind. Interessant finde ich, dass viele freie Gemeinden, die sich nie Brüdergemeinden nennen würden, dennoch ganz ähnliche Grundsätze vertreten. Es sind Brüdergemeinden, sie wissen es bloß noch nicht.

Nun hat uns der Herr die Talente aber nicht dazu gegeben, dass wir uns daran ergötzen, sondern dass wir damit arbeiten. Ich möchte deshalb zum Schluss noch fünf Wünsche formulieren und uns als Auftrag mitgeben.

Zum 1. Talent: Möge der Herr uns gnädig sein, dass wir gerade bei der Anbetung niemals die Form über den Inhalt stellen, aber auch nie das Lob des Herrn durch Menschenlob oder das eigene Wohlgefühl ersetzen.

Zum 2. Talent: Möge der Herr auch in Zukunft barmherzig mit uns sein, dass wir nie auf den Zeitgeist schielen, sondern getrost und mutig das umsetzen, was er uns in seinem Wort sagt, und unsere Traditionen – die wir ja haben dürfen – nie über das Wort stellen.

Zum 3. Talent: Möge der Herr uns davor bewahren, dass die Gemeinschaft zwischen Brüdergemeinden und ihren Werken durch die Profilierungssucht oder das Machtstreben Einzelner gefährdet wird, dass die 5 % unterschiedlicher Auffassungen niemals die 95 % Übereinstimmungen auffressen, wie es die mageren mit den fetten Kühen im Traum des Pharao getan haben.

Zum 4. Talent: Möge der Herr es schenken, dass wir mit ganzer Kraft unseren Nachwuchs fördern und ihn auf jede Weise zum Dienst ermutigen. Überlassen wir das bitte nicht dem Selbstlauf und nennen dies dann auch noch Geistesleitung.

Zum 5. Talent: Lasst uns, wie es die Schrift sagt, den Glauben unserer Väter nachahmen und jeden Tag auf das Kommen unseres Herrn vorbereitet sein. Wie schön, wenn jeder von uns ihm dann sagen könnte „Herr, fünf Talente hast du mir gegeben. Hier sind weitere fünf, die ich dazugewonnen habe.“ Bestimmt würde unser Herr dann auch sagen: „Hervorragend! Du bist ein guter Mann! Du hast das Wenige zuverlässig verwaltet, ich will dir viel anvertrauen. Komm herein zu meinem Freudenfest!“

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