Der „Brief der Zehn“

Ist der sog. „Brief der Zehn“ aus dem Jahr 1848 das Grundlagendokument der „offenen Brüder“? Hat er noch heute in Kreisen, die der Position der „offenen Brüder“ nahe stehen, Gültigkeit? Im Folgenden sollen geschichtliche Hintergründe und aktuelle Bedeutung dieses Briefes näher erläutert werden. (Den Text des Briefes können Sie ebenfalls hier herunterladen.)


Geschichtlicher Hintergrund

Ab 1845 erlebte die noch nicht einmal zwei Jahrzehnte alte Brüderbewegung ihre erste fundamentale Krise. Während bis dahin Detailunterschiede in Lehre und Praxis ausgehalten wurden, eskalierte 1845 in der südenglischen Brüderversammlung in Plymouth (die zu den bedeutendsten gehörte, daher auch vielfach die Bezeichnung „Plymouth-Brüder“ für die gesamte Brüderbewegung) ein Streit zwischen Benjamin Wills Newton (1805–1898) und John Nelson Darby (1800–1882). Darby warf Newton vor allem vor, in der Versammlung in Plymouth „klerikale Tendenzen“ zu fördern, da dort im Gegensatz zu den meisten anderen Brüdergemeinden Älteste benannt und Predigtdienste für die Gottesdienste geplant wurden (was auch bedeutete, dass die eingeteilten Prediger ihre Predigten gezielt vorbereiteten). Darby sah dadurch die freie Leitung des Heiligen Geistes und die Umsetzung des Priestertums aller Gläubigen in Gefahr.

Als keine klärenden Gespräche zustande kamen und die Diskussion in einen Machtkampf ausartete, brach Darby im Oktober 1845 den Kontakt mit der Gemeinde in Plymouth ab und begann zwei Monate später mit etwa 50–60 Anhängern in einem anderen Gebäude eine „zweite“ (aus seiner Sicht: die einzig legitime) Zusammenkunft in Plymouth. Damit scheiterte die Brüderbewegung, die ursprünglich eine Sammel- und Einheitsbewegung aller wahren Gläubigen sein wollte, erstmals dramatisch an einem ihrer wichtigsten Ziele.

1847 kam es zusätzlich zu einer Diskussion über Newtons langjährige theologische Beschäftigung mit Jesu Menschsein (die sich im Kern um das unlösbare Spannungsfeld zwischen der Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu drehte). James L. Harris (1793–1877, neben Newton einige Zeit eine bedeutende Führungsfigur in Plymouth) distanzierte sich scharf von Newtons Gedanken und warf ihm fundamentale Irrlehre vor; Darby verfasste ebenfalls eine deutliche Replik. Auch andere überregional bekannte „Brüder“ und zahlreiche Versammlungen bezogen Position gegen Newton und distanzierten sich – wie Darby bereits vor ihnen – von der Gemeinde in Plymouth (obwohl Newton diese bereits Ende 1847 verließ).

Die Entwicklung gewann zusätzlich an Dynamik, als Darby begann, sich auch von jedem weiteren Kreis zu trennen, der Personen in seiner Mitte duldete, die noch Gemeinschaft mit der „ausgestoßenen“ Versammlung in Plymouth unterhielten. An der Bethesda-Kapelle in Bristol (Südengland), der Heimatgemeinde von Georg Müller (1805–1898) und Henry Craik (1805–1866), wurde ein Exempel statuiert. Die Gemeinde versuchte zunächst, sich aus diesem Konflikt herauszuhalten; die Beteiligten wollten sich auf ihre Aufgaben, Georg Müller z.B. auf seine Waisenhäuser, konzentrieren und sich nicht mit den komplizierten und widersprüchlichen Äußerungen in einer Lehrdebatte befassen. Als jedoch 1848 George und Henry Woodfall aus Plymouth nach Bristol kamen und am Abendmahl (Brotbrechen) teilnehmen wollten, drängte Darby die Gemeinde in Bristol zu einer Stellungnahme. Einige Angehörige der Bethesda-Gemeinde, unter ihnen George Alexander, forderten ebenfalls eine deutliche Abgrenzung von Plymouth, allerdings vergeblich. George Alexander schrieb daraufhin einen Brief an die Ältesten der Gemeinde in Bristol, in dem er erklärte, sich von Bristol absondern zu müssen.1

Vor diesem Hintergrund befassten sich nun doch zehn führende Brüder der Gemeinde mit dem Fall Newton/Plymouth; sie formulierten ihre Position in einem Brief, der am 29. Juni und am 3. Juli 1848 bei besonderen Zusammenkünften verlesen und erläutert wurde und später unter dem Namen „Brief der Zehn“ (Letter of the Ten) bekannt wurde. Kernaussage des Briefes ist die grundsätzliche Ablehnung, in Plymouth (oder anderswo) gelehrte Irrtümer in jedem Fall offiziell untersuchen und beurteilen zu müssen, bzw. der Zweifel, dies überhaupt leisten zu können. Die Unterzeichner argumentieren, die Forderung, Newtons wechselnde und unklare Ansichten im Detail zu untersuchen,

Die zehn Unterzeichner betonen, aus diesen Gründen „die große Masse der Gläubigen unter uns in glücklicher Unwissenheit über die Auseinandersetzung in Plymouth“ halten und sich nicht auf die Seite einer der beiden Parteien stellen zu wollen.

Darby sah durch diese neutrale Haltung die seiner Ansicht nach elementare „Absonderung vom Bösen“ nicht genügend ernst genommen und gewährleistet. Folgerichtig trennte er sich 1848 mit zahlreichen Versammlungen, die seine Ansicht teilten, von der Gemeinde in Bristol. Er beschuldigte die dortige Bethesda-Gemeinde in einem weit verbreiteten „Bethesda Circular“ vom 26. August 1848, durch die Aufnahme von Geschwistern aus Plymouth (ob diese die Irrlehre Newtons ebenfalls vertraten oder nicht) Böses in ihrer Mitte zu dulden, und warnte alle englischen Versammlungen davor, die Gemeinschaft mit Geschwistern aus Bristol aufrechtzuerhalten:

„[Das Böse] ist in Bethesda offiziell und vorsätzlich zugelassen worden unter dem Vorwand, man wolle es nicht untersuchen (an sich ein Grundsatz, durch den man sich weigert, gegenüber Wurzeln der Bitterkeit wachsam zu sein), und es ist faktisch beschönigt worden. Und wenn dies gestattet wird, indem man Personen von Bethesda zulässt, werden die, die das tun, moralisch mit dem Bösen identifiziert, denn die Gemeinschaft, die so handelt, ist korporativ verantwortlich für das Böse, das sie zulässt. [...] Was mich betrifft, so würde ich weder nach Bethesda in seinem gegenwärtigen Zustand gehen noch irgendwo anders hin, wo Personen von Bethesda – solange es in diesem Zustand bleibt – wissentlich zugelassen werden. Ich möchte mich darüber hier nicht ausbreiten, sondern lege es den Brüdern vor und appelliere an ihre Treue zu Christus und ihre Sorge für Seine geliebten Heiligen.“2

Diese Trennung führte im weiteren Verlauf und der zunehmenden internationalen Verbreitung der Brüderbewegung zu dem noch heute weltweit bestehenden Riss zwischen „offenen“ und „geschlossenen Brüdern“, da sich nach und nach alle bereits existierenden Versammlungen gezwungen sahen, „Stellung zu beziehen“, und sich neu entstehende je nach Gründer auf einer der beiden Seiten positionierten. Diese Zweiteilung spiegelt die grundsätzlichen Pole wider, zwischen denen sich die Brüderbewegung bis heute bewegt und zwischen denen sie hin- und hergerissen ist. Durch zahlreiche weitere Spaltungen ist aber (besonders in Großbritannien) die Lage zunehmend unübersichtlich und kleinteiliger geworden.


Heutige Bedeutung

Ende der 1870er Jahre kritisierte der „geschlossene Bruder“ Andrew Miller, der „Brief der Zehn“, „auf den sich die Anklagen gründen“, sei von den „offenen Brüdern“ „niemals zurückgezogen worden“.3 Etwa 100 Jahre später schrieb Willem J. Ouweneel in seiner „Geschichte der Brüder“ (damals ebenfalls Positionen der „geschlossenen Brüder“ vertretend), der Brief sei „deswegen so bekannt geworden, weil er bis auf den heutigen Tag die Grundlage wiedergibt, auf der sich die ‚offenen Brüder‘ versammeln, und er mit Recht als ihre ‚Magna Charta‘ betrachtet werden kann“.4 Auch Andreas Steinmeister hält in seiner 2004 erschienenen geschichtlichen Darstellung der Brüderbewegung daran fest, bei dem „Brief der Zehn“ handele es sich um „das entscheidende Dokument“, das schließlich zur Trennung und zur Entstehung der „offenen“ und „geschlossenen Brüder“ führte.5

Ist dieser Brief wirklich „das Dokument, um das es letztlich geht“?6 Die herausgehobene Bedeutung, die manche Autoren diesem Brief für die aktuelle Situation beimessen, ist sicher ein wenig zu relativieren.

Festzuhalten ist: Der „Brief der Zehn“ brachte einen grundsätzlichen Auffassungsunterschied in der frühen Brüderbewegung ans Licht und war für die Vertreter der einen Auffassung (die späteren „geschlossenen Brüder“) der Anlass, sich von den Vertretern der anderen Auffassung (den späteren „offenen Brüdern“) zu trennen. Der Gegensatz zwischen

kam hier deutlich zur Geltung. Der „Brief der Zehn“ spiegelt also im Grundsatz (wahrscheinlich sogar erstmals) sehr wohl die Sichtweise der „offenen Brüder“ wider. Damit beschreibt er auch die Eckpfeiler der Haltung der heutigen Vertreter einer „offenen“ Position. Eine auch heute noch entscheidende Rolle wird dem Brief jedoch nahezu ausschließlich von Seiten „geschlossener“ Autoren zugeschrieben; er dient diesen in vielen Fällen als Kristallisations- und Bezugspunkt für Abgrenzungsbemühungen. Autoren der „offenen Brüder“ selbst maßen und messen diesem Brief offenkundig keinen grundlegenden Charakter bei; als bedeutsames Gründungsdokument oder viel zitierte „Magna Charta“ wird sie aus ihrer Perspektive nicht betrachtet.

Eine Überhöhung des Briefes lag übrigens auch in keiner Weise in der Intention der Unterzeichner. Mehrere Belege verdeutlichen, dass der „Brief der Zehn“ nicht als „Magna Charta“ gedacht war und auch später nicht als solche angesehen wurde:

„Wir haben den Brief der Zehn nie veröffentlicht. Er wurde der Gemeinde mit Erklärungen vorgelesen, und es war ungerecht, ihn ohne diese Erklärungen zu verbreiten. Wir bestreiten, dass er eine Richtschnur für die Gemeinde ist. Er wurde aufgrund bestimmter Umstände zu einer bestimmten Zeit geschrieben, wie es auch am Anfang des Briefes heißt, und hatte den Zweck, die Gründe anzugeben, warum wir Herrn Alexanders Wunsch, die Irrtümer gemeinschaftlich zu verurteilen, nicht entsprochen hatten. Wir erkennen keine andere Norm an als das Wort Gottes. Wir können nicht sagen, welche Vorgehensweise wir in bestimmten Umständen wählen sollen, wenn sie nicht im Wort Gottes definitiv aufgezeigt wird. Wir überlassen uns jeweils der Leitung des Geistes.“8

„Was nie in Kraft getreten ist, kann auch nicht außer Kraft gesetzt werden.“9

„Lieber Bruder, auf Ihren Brief bezüglich des Schriftstücks, das gewöhnlich Brief der Zehn genannt wird, sende ich Ihnen folgende Antwort. Als Gemeinschaft oder Versammlung haben wir keine andere Richtschnur als das Wort Gottes; keinen Kodex von Gesetzen, Regelungen oder Gemeindegrundsätzen als nur die, die darin enthalten sind. Wir wollen uns in allen Dingen dem Wort Gottes unterwerfen, und zwar unter der Leitung des Heiligen Geistes. Das Schriftstück, von dem Sie sprechen, sollte nie mehr sein als eine bloße Darstellung von Tatsachen und eine Erklärung der Gründe, warum die arbeitenden Brüder damals diese Vorgehensweise wählten, die ihnen in den besonderen Umständen dieses Falles richtig erschien. Mit dem Anlass, der den Brief hervorrief, ist auch der Brief selbst Vergangenheit geworden. Das Schriftstück war nie zur Veröffentlichung bestimmt und wurde der Gemeinde mit Erklärungen vorgelesen. Es hätte nicht ohne unsere Zustimmung oder ohne die Erklärungen, die ihm beim Vorlesen beigegeben wurden, veröffentlicht werden sollen.“10

Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen muss die hier und da angenommene grundlegende Bedeutung des „Briefes der Zehn“ als Dokument relativiert werden. Zu erkennen ist aber auch, dass sich die Unterzeichner später nur von dem formalen Rang, der dem Brief von Seiten der „geschlossenen Brüder“ zugeschrieben wurde, distanzierten, nicht aber von seinem Inhalt an sich (Craik etwa betont in dem zitierten Brief von 1857, dass Bethesda sich in einer ähnlichen Situation wie 1848 wahrscheinlich wieder genauso entscheiden würde11). Insofern lässt sich zusammenfassen: Der „Brief der Zehn“ spiegelt grundlegende Ansichten, die heute noch unter „offenen Brüdern“ verbreitet sind und Gültigkeit haben, wider, hat aber als Dokument keine formale Bedeutung oder Gültigkeit.

Ulrich Müller und Michael Schneider


Download (PDF-Dokumente):

The “Letter of the Ten” [englische Originalfassung; 6 Seiten, 48 KB]
Der „Brief der Zehn“ [deutsche Übersetzung; 6 Seiten, 50 KB]


Anmerkungen:

[1] Der Brief ist bei G[eorge] V[icesimus] Wigram, The Present Question: 1848–1849, London (Campbell) 1849, vollständig zitiert.

[2] “It has been formally and deliberately admitted at Bethesda under the plea of not investigating it (itself a principle which refuses to watch against roots of bitterness), and really palliated. And if this be admitted by receiving persons from Bethesda, those doing so are morally identified with the evil, for the body so acting is corporately responsible for the evil they admit. [...] For my own part I should neither go to Bethesda in its present state, nor while in that state go where persons from it were knowingly admitted. I do not wish to reason on it here, but lay it before brethren, and press it on their fidelity to Christ and their care of His beloved saints” („The Bethesda Circular“, in: The Collected Writings of J.N. Darby, ed. by William Kelly, Kingston-on-Thames [Stow Hill Bible and Tract Depot] o.J., Bd. 15, S. 164–167, hier 166f.).

[3] Andrew Miller: „Die Brüder“, allgemein so genannt. Eine kurze Übersicht über ihren Ursprung, ihre Entwicklung und ihr Zeugnis, leicht überarbeitet und gekürzt von G.C. Willis, ins Deutsche übersetzt von L. Kienbaum, Neustadt/Weinstraße (Ernst Paulus) ³1981, S. 68.

[4] „Deze brief is daarom zo bekend geworden omdat de uiteenzetting daarin tot op de dag van vandaag de grondslag weergeeft waarop de ‚Open Broeders‘ vergaderen en met recht als hun ‚magna charta‘ kan worden beschouwd“ (W[illem] J. Ouweneel: Het verhaal van de „Broeders“. 150 jaar falen en genade. Deel I [1826–1889], Winschoten [Uit het Woord der Waarheid] 1977, S. 69).

[5] Andreas Steinmeister: ... ihr alle aber seid Brüder. Eine geschichtliche Darstellung der „Brüderbewegung“, Retzow (Daniel) 2004, S. 79.

[6] Steinmeister (wie Anm. 5), S. 94.

[7] Im Kern ging es um die Frage, ob es genügt, selbst frei von „Bösem“ zu sein („offene“ Position), oder ob man darüber hinaus auch keine Verbindung mit anderen haben darf, die als „böse“ angesehen werden („geschlossene“ Position). – Für die Auffassung, eine Gemeinschaft von Gläubigen sei unrein, wenn sie jemand in ihrer Mitte duldet, der Kontakt zu einer Gemeinschaft hat, in der „Böses“ geduldet wird, wird hier und da der Begriff „Kettenverunreinigung“ gebraucht. Diesen Ausdruck lehnen jedoch auch die „geschlossenen Brüder“ in der Regel ab.

[8] “We never published The Letter of the Ten. It was read to the church with explanations, and it was unjust to circulate it without those explanations. We deny its being a church standard. It was written because of certain circumstances at a certain time, as stated at the outset, for the purpose of giving reasons why we had not complied with Mr. Alexander’s request, and judged the errors corporately. We acknowledge no rule but the word of God. We cannot tell what course we should adopt under particular circumstances, unless it is definitively pointed out in the Word. We leave ourselves to the guidance of the Spirit at the time“ (zitiert bei Henry Groves: Darbyism: Its Rise, Progress, and Development, third edition, revised, London [Hawkins] o.J. [ca. 1880], S. 42).

[9] “that which never had been enacted could not possibly be repealed” (zitiert bei W[illiam] Trotter: Bethesda in September 1857; or, An Answer to the Question, Why do you still stand apart from Bethesda?, London [Morrish] 1857).

[10] “My dear Brother, – With regard to your letter respecting a paper commonly called The Letter of the Ten, I send you this as my reply. As a body or assembly we have no standard but the word of God; no code of laws, or regulations, or church principles, but those contained therein. We desire in all things to be subject to the word of God, under the guidance of the Holy Spirit. The paper to which you refer was never intended to be more than a mere statement of facts and explanation of reasons for pursuing the course which the labouring brethren thought to be right at that time, under the peculiar circumstances of the case. It is to be regarded as having passed away with the occasion which gave rise to it. That paper was never intended for publication, and was read to the church with explanations. It should not have been published without our consent, or without the explanations which accompanied the reading of it” (zitiert bei Groves [wie Anm. 8], S. 41).

[11] “I believe that if we were at the present moment to be placed in such circumstances as those in which we then found ourselves, most of us might probably come to the same judgment as is expressed in the document above referred to” (zitiert bei Trotter [wie Anm. 9]).

StartseiteThemen > Der „Brief der Zehn“


© 2005 by bruederbewegung.de · Letzte Änderung: Montag, 26. Dezember 2016