Interview mit Dr. Andreas Liese

Andreas Liese, 1953 in Berlin geboren, promovierte 2001 an der Technischen Universität Berlin mit einer Arbeit über die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung („verboten – geduldet – verfolgt“, Hammerbrücke [jota-Publikationen] 2002). In diesem Interview erläutert er einige Hintergründe seiner Forschungsarbeit. Einzelheiten zu seiner Person können Sie auch dem von ihm ausgefüllten bruederbewegung.de-Fragebogen entnehmen.


Frage: Deine Doktorarbeit beschäftigt sich mit der „nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung“. Wie lässt sich die zugrunde liegende Fragestellung in zwei Sätzen zusammenfassen?

Liese:

  1. Wie sah die NS-Religionspolitik (Gestapo, Sicherheitsdienst der SS, Reichskirchenministerium) gegenüber den einzelnen Gruppen der Brüderbewegung („Elberfelder Brüder“, „offene Brüder“, „Raven-Brüder“) aus?
  2. Wie reagierten die Angehörigen der Brüderbewegung auf die nationalsozialistischen Maßnahmen (Verbot der „Christlichen Versammlung“, Gründung des „Bundes freikirchlicher Christen“, Verfolgung der „Nichtbündler“ u.a.)?

Frage: Wie kamst du gerade auf dieses Thema, was fandest du daran so spannend? Manchen erscheint es geradezu suspekt, in der Vergangenheit „herumzustochern“ und teilweise auch persönliches Versagen darzustellen.

Liese: Aufgrund meiner Biografie interessierte ich mich schon immer für die Geschichte der Brüderbewegung. In Deutschland ist dabei sicher die Zeit von 1933 bis 1945 von großer Wichtigkeit. Nach den politischen Veränderungen 1989 waren auch die Bestände des ehemaligen Zentralarchivs der DDR einsehbar (besonders wichtig sind hier die Akten des Reichskirchenministeriums). Da ich 1992 im Rahmen meiner Weiterbildung zum Studienrat eine wissenschaftliche Hausarbeit im Fach Geschichte anfertigen musste, entschied ich mich, über die „Brüder“ im Dritten Reich zu arbeiten. Nach Beendigung der Weiterbildung beschäftigte ich mich aus Interesse an der Sache weiter mit diesen Fragen und fand auch neues Aktenmaterial. Über die schon genannte Motivation hinaus war es – neben der historischen Neugier, die man für ein solches Thema unbedingt benötigt – auch das Interesse an Fragen des Nationalsozialismus generell, das mich immer wieder zur Arbeit motivierte.

Frage: War es schwierig, für dieses Projekt einen betreuenden Professor zu gewinnen?

Liese: Überhaupt nicht. Die Erstgutachterin, Prof. Karin Hausen, kannte ich aus meiner Studienratsprüfung. Sie war sofort bereit, meine Arbeit zu betreuen. Sie gewann dann als Zweitgutachter Prof. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, einen der bekanntesten Forscher im Bereich des Nationalsozialismus.

Frage: Wie bist du methodisch vorgegangen? Auf welche Quellen konntest du zurückgreifen?

Liese: In meinen Forschungen ging ich zuerst von der Frage aus, wie sich die nationalsozialistische Politik gegenüber den einzelnen Gruppen der Brüderbewegung gestaltete (Konzepte, Maßnahmen u.a.). Erst im zweiten Schritt sollten die Verhaltensweisen der „Brüder“ thematisiert werden.

Die Quellensuche, die bisher unbekannte Bestände in großem Ausmaß erschloss, gestaltete sich einerseits sehr mühevoll und zeitaufreibend, andererseits war diese Phase der Arbeit eine sehr spannende Angelegenheit. Ich konnte in staatlichen (z.B. Bundesarchiv), kirchlichen, freikirchlichen und privaten Archiven eine Vielzahl von Dokumenten finden.

Frage: Zu welcher Antwort auf deine Fragestellung bist du gelangt? Bist du zu neuen Forschungsergebnissen gekommen?

Liese: Ich denke, dass ich zu vielen neuen Ergebnissen gekommen bin. So ging es beispielsweise beim Verbot der „Christlichen Versammlung“ nicht – wie in vielen Darstellungen noch immer behauptet wird – um organisatorische Fragen; ausschlaggebend war letztlich nicht das Fehlen einer für den Staat durchsichtig aufgebauten Organisation. Vielmehr lässt sich nachweisen, dass der NS-Staat – teilweise auch aufgrund von Fehleinschätzungen – massive ideologische Vorbehalte gegenüber der „Christlichen Versammlung“ hatte. Weiter lassen sich die Entstehung des „Bundes freikirchlicher Christen“ (BfC) und sein Verhältnis zum NS-Staat anhand vieler und zum großen Teil auch bislang unbekannter Quellen jetzt viel genauer nachvollziehen; damit ergab sich auch eine differenziertere Einschätzung der Rolle von Dr. Hans Becker bei der Gründung des BfC.

Ebenso ergaben sich hinsichtlich der Geschichte der sog. „Nichtbündler“ (Angehörige der „Christlichen Versammlung“, die sich nicht dem „Bund freikirchlicher Christen“ anschlossen) neue Erkenntnisse. Hier konnte ich anhand von Akten der Staatsanwaltschaften und Gerichte ihre Verfolgung durch das NS-Regime ausführlich dokumentieren. Diese Forschungen führten dazu, dass ihr Verhalten – mehr als bisher – als eine Mischung aus Anpassung und Verweigerung gedeutet werden muss, wobei die Anpassung oft überwog. Manche Urteile über die Standhaftigkeit der „Nichtbündler“ müssen daher korrigiert werden.

Auf der anderen Seite konnte aber anhand von verschiedenen Akten ermittelt werden, dass es sowohl bei Angehörigen des BfC (beispielsweise Dr. Fritz Richter, Geschäftsführer des BfC) als auch bei den „Nichtbündlern“ ausgesprochen widerständiges Verhalten gab. Zu bedauern ist, dass man diese Verhaltensweisen oft zu wenig kennt.

Frage: Was hat dich persönlich während deiner Forschungsarbeit besonders beeindruckt?

Liese: Zum einen, dass das NS-Regime kleinen Gruppen wie z.B. der „Christlichen Versammlung“ eine derart hohe Aufmerksamkeit schenkte. Religiöse Gemeinschaften, wie klein sie auch waren, stellten einen Gegenentwurf zum totalitären Anspruch des Nationalsozialismus dar. Damit machten sie sich schon aufgrund ihrer bloßen Existenz verdächtig. Zum anderen hat mich beeindruckt, dass es Christen gab, die ihrem Gewissen folgten und sich verweigerten. Diese Verhaltensweisen gab es sowohl im BfC als auch bei den „Nichtbündlern“.

Frage: Du hast deine Doktorarbeit nebenberuflich erarbeitet. Wie ließ sich das mit Familie und Beruf „unter einen Hut bringen“?

Liese: Das war sicher nicht immer einfach. Es gab Phasen, in denen ich aufgrund meiner schulischen Belastung monatelang keine Zeit für die wissenschaftliche Arbeit hatte. Sehr oft musste ich auf Wochenenden und Schulferien ausweichen. Damit war Verzicht auf Freizeit angesagt. Man kann so etwas nur durchhalten, wenn eine echte Motivation für eine solche Arbeit vorhanden ist. Und das war bei mir eben der Fall.

Frage: Welche Lehren kann man für heute aus den Erfahrungen der Geschichte, die du beschreibst, ziehen? Hat das Thema eine aktuelle Relevanz?

Liese: Für mich ergibt sich daraus zum einen die Konsequenz, dass die Freiheit (besonders auch die Religionsfreiheit), die wir in unserem demokratischen Staat genießen dürfen, ein höchst schützenswertes Gut ist. Leider erkannten viele Christen – auch die „Brüder“ – 1933 nicht, dass mit dem Ende der Weimarer Republik auch die Religionsfreiheit bedroht war. Vielmehr weinte man der Demokratie keine Träne nach und begrüßte die neuen politischen Verhältnisse. In der Diktatur gibt es eine religiöse Betätigung aber oft nur innerhalb der staatlichen Vorgaben. Christen – so lautet eine Erkenntnis, die sich aufdrängt – haben sich für den demokratischen Staat auch deshalb mit allen Mitteln einzusetzen, weil er ihnen die Freiheit der religiösen Betätigung garantiert. Allerdings bedeutet dies, dass diese Freiheit auch für andere Gruppen gilt, die möglicherweise in einem scharfen Gegensatz zum christlichen Glauben stehen. Christen haben dann aber auch die Möglichkeit der inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihnen.

Zum anderen sollte man sich daran erinnern, dass in allen Gruppen der Brüderbewegung Anpassung und Verweigerung vorkamen. Wenn nicht mehr die einen – etwas überspitzt ausgedrückt – nur das Gute und die anderen nur das Böse repräsentieren, kann offen über Versagen in allen Gruppen gesprochen werden. Es darf aber auch auf die „Brüder“ hingewiesen werden, die in bestimmten Fragen ihrem durch das Evangelium geschärften Gewissen folgten. Auch hier gibt es eine gemeinsame Geschichte der verschiedenen Gruppen.


Die Fragen stellte Ulrich Müller. Das Interview wurde im November 2004 geführt.
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