Interview mit Dipl.-Soz. Evelyn Hügli-Schmidt

Frau Hügli-Schmidt ist seit 1995 Vorsitzende der Initiative „Artikel 4“; sie führt in Nordrhein-Westfalen psychosoziale Beratung und Begleitung für Ausstiegswillige aus „fundamentalistischen“ Gruppierungen durch. In dem Gespräch mit bruederbewegung.de spricht sie über Glaubensfreiheit und die Frage, ob „darbystische“ Gruppen ebenfalls Gefahren bergen.


Frage: Frau Hügli-Schmidt, Sie engagieren sich seit Jahren für eine Aktion namens „Artikel 4“. Wofür steht diese Initiative?

Hügli-Schmidt: Artikel 4 – Initiative für Glaubensfreiheit e.V. ist eine bundesweite Selbsthilfe-Initiative für Aussteiger aus religiösen und weltanschaulichen Sondergruppen. Der Verein richtet sich gegen den Missbrauch des Artikels 4 des Grundgesetzes besonders durch sog. Sekten und Psychogruppen, sofern Menschen dort psychosozialen und/oder finanziellen Schaden nehmen können. (Artikel 4 GG 1: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“) Wir möchten die Öffentlichkeit einerseits gern darüber informieren, dass die verfassungsmäßig garantierte Glaubensfreiheit sektenintern keineswegs zur Anwendung kommt. Andererseits ist es unser Anliegen, die sensible Problematik der „unfreiwilligen Mitgliedschaft sog. Religionsunmündiger“ – d.h. Kinder bis zum 14. Lebensjahr – öffentlich zu thematisieren.

Frage: In einem Artikel in der Rheinischen Post vom 25. September 2001 („Religiöser Fundamentalismus: Aussteigen verboten“) werden christlich-fundamentalistische Gruppen mit islamischem Fanatismus verglichen; Sie werden, bezugnehmend auf eigene Erfahrungen sowie Ihre Arbeit mit Artikel 4, quasi als Kronzeugin für diesen Vergleich zitiert.

Hügli-Schmidt: In dem Artikel bin ich falsch zitiert und interpretiert worden. Ich wurde so zitiert, dass der Eindruck entsteht, ich stelle den Fundamentalismus-Begriff mit dem Fanatismus-Begriff gleich. Dies ist falsch. Richtig ist, dass in einigen Religionen das Fundamentalismus-Phänomen existiert. Dies ist aber in keiner Weise mit weltanschaulich oder religiös motiviertem Fanatismus gleichzusetzen. Durch die falsche Interpretation wurden in dem Artikel einige aus dem protestantischen Fundamentalismus des 19. Jahrhunderts hervorgegangene und im Laufe der Zeit veränderte Sondergemeinschaften durch Bild und Text in die Nähe von so genannten Fanatikern gerückt. Dies ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass alle in dem Artikel von mir aufgeführten christlichen Gruppierungen keinesfalls auch nur in die Nähe von religiösem Fanatismus gerückt werden können. Dies gilt auch für viele mir bekannten fundamentalistischen Gruppierungen aus anderen Hochreligionen. Meine Richtigstellung wurde am 26. September 2001 abgedruckt. Gerade in diesem sensiblen Kontext bedarf es sowohl einer differenzierten Argumentation als auch einer Berichterstattung ohne „journalistische Zuspitzungen“.

Frage: Sie wehren sich also in der Richtigstellung vor allem dagegen, Fundamentalismus und Fanatismus begrifflich zu vermischen?

Hügli-Schmidt: Ja, meine Kritik galt primär der „scheinbaren Verwendung der Begrifflichkeiten Fundamentalismus und Fanatismus als Synonyme“. Dies ist schon rein etymologisch unkorrekt. Zudem sind einige Gruppen bzw. Abspaltungen dieser Ursprungsgruppen, die sich damals nahezu zeitgleich im Amerika des 19.Jahrhunderts gebildet haben, heute im Freikirchenstatus oder im Gespräch mit dem AcK (Arbeitskreis christlicher Kirchen). Es ist mir wichtig, dass man diesen Veränderungen innerhalb einiger Gruppierungen auch in der öffentlichen Diskussion Rechnung trägt.

Frage: In dem o.g. Artikel wird von Ihrer persönlichen schwierigen Ausstiegserfahrung aus der, wie es heißt, „Gemeinschaft [...], die in einschlägigen Lexika als Darbysten bezeichnet wird“, unmittelbar zu der Arbeit von Artikel 4 übergeleitet.

Hügli-Schmidt: Mein eigener Ausstieg und meine persönliche Neuorientierung liegen nun viele Jahre zurück. Da ist es nicht mehr „zeitgemäß“, eigene Betroffenheit zu reflektieren. Ich erfuhr vor ca. 7 Jahren durch eine Zeitungsanzeige von dieser Initiative und nahm auch aus beruflichem Interesse Kontakt auf. Als Religionssoziologin interessieren mich auch die Biografien von Aussteigern. Zudem war und ist der Austausch mit anderen Betroffenen eine große persönliche Bereicherung für mich. Da ich mich mit der Arbeit und den Zieldefinitionen des Vereins solidarisch erklären konnte, habe ich mich zur ehrenamtlichen Mitarbeit entschlossen. Seit einigen Jahren bin ich Vorsitzende der Initiative.

Frage: Sehen Sie dennoch die Ausstiegsproblematik auch für christliche Sondergruppen und auch für Teile der Brüderbewegung? Anders gefragt: Unterstützt Artikel 4 bei Bedarf auch Ausstiegswillige aus extremeren „darbystischen“ Kreisen (Raven-Taylor-Richtung o.Ä.)? Oder halten Sie die verschiedenen Zweige der Brüderbewegung generell für unbedenklich in dieser Hinsicht?

Hügli-Schmidt: Artikel 4 unterstützt jeden „Hilfesuchenden“, aus welcher Gruppierung auch immer. „Sektenstrukturen“ aus soziologischer Sicht, nämlich nach strukturellen und funktionalen Aspekten, lassen sich ja nicht nur im sog. klassischen Sektenwesen nachweisen. So etwas kann sich ja in jedem Sozialsystem bilden. Unsere Initiative versteht sich als weltanschaulich neutral und ist in ihrer Zusammensetzung heterogen. Bei uns gibt es Betroffene aus den Zeugen Jehovas, den Mormonen, der Neuapostolischen Kirche, aus esoterischen Gruppen, sog. destruktiven Kulten, den sog. neureligiösen Gruppen u.v.m. Auch Ex-Darbysten gibt es unter uns und im Freundeskreis der Initiative.

Wir sind nicht „Gegner“ dieser Gruppen, sondern respektieren natürlich deren jeweilige religiöse oder weltanschauliche Überzeugung und freuen uns, wenn ein Dialog möglich bleibt. Wir helfen nur denen, die meinen, dass sie sich durch die Ideologie einer Gruppe geschädigt oder an der „freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit“ (Art. 2 GG) gehindert fühlen. Und auch diejenigen finden bei uns Gehör und Unterstützung, die durch den freiwilligen Ausstieg oder bestimmte Praktiken von „Gemeindebann und Gemeindezucht“ das soziale Netz verlieren und in soziale Isolation geraten sind.

Frage: Sie würden also auch bei extremen Gruppenstrukturen eine pauschale Warnung vor dieser Gruppe vermeiden?

Hügli-Schmidt: Es gehört nicht zu meinen Aufgabenbereichen, vor speziellen Gruppen zu warnen. Das möchte ich den Weltanschauungsbeauftragten überlassen. Wohl aber wird sich jede „Glaubensgemeinschaft“ daran prüfen lassen müssen, wie demokratisch ihre Binnenstrukturen sind und wie viel Autonomie und Menschenwürde sie ihren Mitgliedern gewährt. Dort, wo mit Angst- und Schuldgefühlen manipuliert wird, wird eine „gesunde Lebensführung und Glaubenspraxis“ schwer entfaltbar sein.

Frage: Fundamentalistische Gruppen bieten vielleicht einen eingegrenzten Spielraum, andererseits aber klare Orientierung und Verhaltenserwartungen. Was bewegt Menschen, plötzlich aus einer dann doch subjektiv als einengend empfundenen Situation ausbrechen zu wollen, und wie können sie Ihrer Erfahrung nach mit der auf Kosten bisheriger Beziehungsgeflechte gewonnenen Freiheit umgehen?

Hügli-Schmidt: So ein „Ausstieg“ aus einer christlich-fundamentalistischen Gruppierung ist kein einmaliger Akt, sondern ein oft jahrelanger Prozess. Dem eigentlichen Verlassen der Gruppe geht oft ein schon längerer „Glaubens- und Zweifelskampf“ voraus. Oftmals ist es der Zweifel an der nicht zu hinterfragenden Glaubensdoktrin, manchmal ist es auch das Entdecken von Doppelmoral im Gruppenleben. Ein anderer gewinnt mit zunehmender Bildung und durch vermehrte Außenkontakte eine alternative Weltanschauung. Mitunter berichten Menschen auch von „Glaubenserfahrungen“, die sie einem sehr viel barmherzigeren Gottesbild näher gebracht haben, als man in der Gruppe vermittelt und toleriert hatte. Wie auch immer, häufig muss nach oft jahrelanger Indoktrination und Fremdbestimmung recht mühsam autonomes Denken und Verhalten neu gelernt werden. Da braucht es Unterstützung von und den Erfahrungsaustausch mit Menschen, die empathisch sind und darauf vertrauen, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg in Verantwortung finden kann.

Frage: Der Ausstieg aus einer ungesunden, engen Umgebung ist die eine Seite. Wie gelingt Ihnen denn die Integration von Betroffenen in eine gesunde, fördernde Umgebung (auch was den Glauben betrifft)? Wie gehen Sie dabei vor, inwieweit ist Unterstützung möglich?

Hügli-Schmidt: Ein ganz wesentlicher Aspekt bei der Ausstiegsbegleitung ist dieser, dass der Betroffene sich auf die Entdeckungsreise zu sich selbst begibt. Er wird ja nun jenseits der vermeintlich elitären „Kuschelwelt“ und des „schützenden Gruppen-Wir“ Wege aus dem Schwarzweiß-Denken finden wollen. Das ist eine schwierige Lebensaufgabe, die Mut und manchmal Wegbegleitung erfordert. Bei Aussteigern aus Gruppen, die auch geographisch isoliert und sich selbst versorgend waren, gehören natürlich in erster Linie auch ganz pragmatische Hilfestellungen dazu wie etwa die Unterstützung bei der Suche nach einer Wohnung oder Arbeit.

Was die Erweiterung bzw. Neuorientierung im weltanschaulichen oder religiösen Bereich angeht, so gibt es da einige Phasen, die sich bei vielen Aussteigern ähnlich beobachten lassen. Alte Gottesbilder, die nicht mehr tragen, müssen „abgetrauert und begraben“ werden, bevor neue entstehen können. Das ist eine psychisch oft schwer zu ertragende Zeit. Sich in einer Welt der alternativen Wertestandards und der ungeheuer vielen Wahlmöglichkeiten zurechtzufinden, ist für Menschen mit christlich-fundamentalistischer Sozialisation eine Herausforderung. Bislang war die Gruppendoktrin das, worunter sich das Individuum zu beugen hatte. Nun heißt es aber, sich seiner eigenen individuellen Lebensziele und Werte bewusst zu werden. Das, was wir dann z.B. auch die „Individuation des Glaubens“ nennen, bedeutet ja, dass ein Mensch sich zunächst einmal innerlich von dem bisher Geglaubten und Überlieferten distanzieren muss. Er wird sodann – das kann aber im Einzelfall ein langer und sehr ambivalent erlebter Prozess der Irritationen sein – entweder den erlernten Glauben als seinen eigenen übernehmen wollen, ihn modifizieren oder aber auch für das weitere Leben andere Wertsysteme als überzeugend und für sich als verbindlich anerkennen. Da sind „Aussteiger“ so individuell wie „Nicht-Aussteiger“. Ich denke, das ist ein wünschenswerter Reifeschritt in der Entwicklung eines jeden Menschen. Das Leben jenseits von Wahrheitsmonopolen und Bewertungen („richtig oder falsch, schwarz oder weiß“) ist für Aussteiger aus fundamentalistischen Gruppierungen meist erst in kleinen Schritten erfahr- und erlernbar. Dabei bietet der Austausch mit Menschen mit ähnlichen biografischen Vorerfahrungen eine wesentliche Unterstützung gemäß unserem Vereinsmotto: „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Frage: Wie können Interessierte denn im Einzelfall Kontakt zu Artikel 4 oder ähnlichen lokalen Gruppen aufnehmen?

Hügli-Schmidt: Auf unserer Homepage geben wir regionale und überregionale Kontaktmöglichkeiten zum Vorstand der Initiative sowie unsere Veranstaltungshinweise bekannt. Wir laden alle an unserer Thematik interessierten Mitmenschen herzlich ein.


Die Fragen stellte Ulrich Müller. Das Interview wurde im Mai 2003 geführt.
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