Rezension


Hartmut Wahl:
Kein bedingungsloser Gehorsam
Karl von Rohr-Levetzow – ausgelöscht und vergessen
Muldenhammer (Jota Publikationen) 2022
337 Seiten. ISBN 978-3-949069-01-7. € 24,95


Zwei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie und wenige Tage vor Putins Einmarsch in die Ukraine erschien dieses Buch von Hartmut Wahl, das keine direkte Beziehung zu beiden Mega-Ereignissen enthält, wohl aber in der verwirrenden Diskussion um Widerstand heute ein Erinnerungszeichen setzen kann für einen Mann, der altem ostelbischen Adel angehörte und sich als Offizier, Bibelausleger und Evangelist verstand. Er war im Ersten und Zweiten Weltkrieg Offizier, stand 1938/39 kurzzeitig auf der Liste der Reisebrüder des Bundes freikirchlicher Christen (BfC), leistete dann erneut Militärdienst und wurde wahrscheinlich im April 1945 mit seiner Frau von der SS ermordet. Das Ehepaar hat nur wenige dokumentarische Spuren hinterlassen, und der BfC (später BEFG) hat das Seine getan, um den aus den Reihen der „Offenen Brüder“ kommenden Karl von Rohr zu beschweigen und der Vergessenheit anheimzugeben.

Es ist das Verdienst von Hartmut Wahl (Velbert), Karl von Rohr und seine Frau Ehrengard mit diesem Buch dem Beschweigen und Verdrängen ihrer Zeitgenossen (auch ihrer Glaubensbrüder) entrissen zu haben. Dazu ist Wahl als Herausgeber der beiden Bände der Aufzeichnungen und Erinnerungen von Johannes Warns* (neben dem jüngeren Erich Sauer der profilierteste „Offene Bruder“ in Deutschland, beide Lehrer an der Bibelschule Wiedenest) bestens geeignet.

Ein zweites Anliegen von Hartmut Wahl ist es, die Menschen heute (und vor allem die Christen) vor Schweigen, Angst und bedingungsloser Anpassung und Gleichschaltung zu bewahren, kann doch nur unfrisierte Erinnerung der historischen Wahrheit und ein an die Schrift gebundenes Gewissen dem christlichen Menschenbild entsprechen.

Um Karl von Rohr gerecht zu werden, hat Wahl eine enorme Such- und Quellenarbeit geleistet. Der Rechercheaufwand war angesichts der offiziellen Versuche, die Erinnerung an das Ehepaar von Rohr zu tilgen, enorm und entspricht durchaus den Anforderungen an eine Dissertation. Wahl trägt die von ihm mit Sicherheit ermittelten Ergebnisse vor, ebenso beim Fehlen eindeutiger Quellen die von ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit gezogenen Schlussfolgerungen. Er ist dankbar für Hinweise, Ergänzungen und Korrekturen aus seinem Leserkreis.

Wohltuend reflektiert ist Wahls Ansatz, Karl von Rohr in seiner Zeit und aus seiner Zeit zu verstehen. In das große Netzwerk des ostelbischen Adels eingebunden, bei den „Offenen Brüdern“ theologisch verwurzelt, ohne je die Eigenständigkeit seines Denkens aufzugeben, nahm er als kaiserlicher Offizier seinen Abschied, da er sich weigerte, seinen Sohn taufen zu lassen. Er war also früh bereit, für eine gewonnene Überzeugung einen Preis zu zahlen. Früh erkannte und durchschaute er die widerchristliche und ungesetzliche NS-Ideologie – wie viele seiner adligen Standesgenossen. Er war verwandt mit vielen späteren adligen Widerstandskämpfern (vgl. Schaubild S. 291, leider nur mit Lupe lesbar) und dürfte auch Bonhoeffers Positionen gekannt haben. Als freier Evangelist (er bewirtschaftete seine Güter, die finanziell wie bei vielen Adligen in der Weimarer Zeit krisenhaft waren) vertrat er Allianzpositionen, war aber in der Frage, ob Röm 13 von den Untertanen bzw. Bürgern einen bedingungslosen Gehorsam fordere, da jede Obrigkeit, auch die Hitlers, „von Gott verordnet“ sei, anderer Meinung als die im BfC zusammengeschlossenen ehemals „Exklusiven“ und „Offenen Brüder“.

Daher erhob er im Unterschied zu den führenden „Offenen Brüdern“ und den Führern um Dr. Becker früh seine kräftige warnende Stimme. Damit stellte er sich auch gegen seinen theologischen Lehrer Warns, dem er ansonsten viel verdankte.

Nun wurde Karl von Rohr mehr und mehr marginalisiert und zu den großen Konferenzen nicht mehr eingeladen. Er erschien zwar 1938 auf der Liste der BfC-Reisebrüder, trat aber im Dezember 1939 wieder aus dem BfC aus, was einen Schritt in die Rechtlosigkeit bedeuten konnte, mit Sicherheit in verschärfte Überwachung.

Was blieb möglich, wenn persönlich ausgegrenzt und marginalisiert, seine Position zu vertreten? Wahl hat in den Handreichungen (der wichtigsten Zeitschrift der „Offenen Brüder“) zwei gedruckte Bibelauslegungen von Karl von Rohr aus den Jahren 1937 und 1938 zu Rahab und zu Johannes dem Täufer gefunden, die für sich erlauben, Karl von Rohrs theologische und mittelbar auch politische Position zu erschließen (S. 174ff.), von Wahl als „getarnt widerständig“ eingeordnet, durch die „Kunst der mehrdeutigen Rede“ charakterisiert.

Dass die Veröffentlichung dieser brisanten Texte in der Zeitschrift der „Offenen Brüder“ damals noch möglich war, erstaunt, lässt den Mut auch des Herausgebers erkennen und belegt, dass Karl von Rohr unter den ehemals „Offenen Brüdern“ noch Fürsprecher hatte (die ihn sogar auf die Liste der Reisebrüder setzten).

Der Wiederabdruck der beiden Bibelarbeiten und die kommentierende Einordnung durch Hartmut Wahl rechtfertigen bereits allein die vorliegende Publikation und sollten jedem an einer objektiven Brüdergeschichtsschreibung Interessierten empfohlen werden. Freilich ist eine besondere Textentschlüsselungsfähigkeit vonnöten.

Karl von Rohr ist einer der ganz wenigen im Raum der Brüderbewegung, die fragten, ob die Obrigkeit Gutes fördert (und nur dann hat sie Anspruch auf Gehorsam) oder ob sie dem Bösen Vorschub leistet (und dann besteht keine Pflicht zu bedingungslosem Gehorsam, sondern nur zu bedingtem, oder zu Ungehorsam und ggf. aktivem Widerstand). Ein Beleg für Letzteres lässt sich bei Karl von Rohr nicht nachweisen (vgl. S. 141), auch blieb er weiterhin Soldat. Es ist davon auszugehen, dass er seine Position in sorgfältiger theologischer Abwägung und in Kenntnis des verbrecherischen Charakters des NS-Systems und wahrscheinlich auch in Kenntnis der Widerstandsdiskussion innerhalb seiner adligen Verwandtschaft fand. Der nun einzuschlagende Weg konnte in die Einsamkeit, in Verfolgung und in den Tod führen.

„Böse“ ist die Obrigkeit nicht nur, wenn sie Gottesdienste verbietet oder Gläubige verfolgt, sondern auch, wenn sie offenkundiges Recht verletzt, unschuldige Menschen entrechtet und verfolgt und sich selbst an Gottes Stelle setzt.

Das Buch von Hartmut Wahl ist eine wissenschaftliche Pietätsarbeit, einen markanten marginalisierten Vertreter der Brüderbewegung durch Erinnerung zu ehren und uns Heutige auf einen sorgsamen Umgang mit der christlichen Obrigkeitslehre zu verpflichten. Wahl ermutigt auch heute Menschen, Entscheidungen und Maßnahmen der gegenwärtigen politischen und geistlichen Führer dem Prüfstein von Gut/Böse zu unterwerfen, anstatt in Staat und Gemeinde einem Kadavergehorsam zu erliegen. Freilich kann das nicht beliebiger Individualismus sein; die biblische und politische Urteilsfähigkeit der einzelnen Christen muss aufgebaut und auch von den Gemeinden gewollt werden – das ist ein hoher Anspruch. Karl von Rohr war eingebunden in die christliche und weltliche Widerstandsdiskussion kleiner Kreise im „Dritten Reich“, die sich ihre Gewissensentscheidungen schwer machten und dann die Konsequenzen zu tragen bereit waren.

Als an der Brüdergeschichte Interessiertem stellen sich mir noch Fragen an weitere Forschungen: Gab es bei den Geschwistern der „Offenen Brüder“ einen Anteil von vielleicht 10 %, die nicht in den BfC gingen, und bei denen, die nicht hineingingen, einen signifikanten Anteil, der sich im Untergrund versammelte?

Soziologisch und sozial waren zumindest die führenden „Offenen Brüder“ akademisch oft besser vorgebildet (z.T. Theologen, Offiziere, Verwaltungsleute) als die führenden Brüder der „Exklusiven“ und in vielen staatsnahen Berufen tätig gewesen. Gingen von den ehemals „Offenen Brüdern“ ab 1937/38 viele in die Illegalität?

Sodann, um Hartmut Wahls zweites Anliegen ernst zu nehmen: Bemühen sich die heute im weiten Rahmen der Brüderbewegung („Exklusive“, Freier Brüderkreis oder BEFG) Verantwortlichen, die einzelnen Geschwister zu theologischer und individualethischer Eigenverantwortung zu führen, oder dominiert eine reale oder verdeckte Leitungshierarchie, die mit Eigenständigen und Unangepassten nicht umzugehen weiß?

Schließlich: Wer pflegt und beherrscht noch die Kunst des mehrdeutigen Schreibens?

Alles in allem ein wichtiges Buch über einen beschwiegenen und in die Vergessenheit gedrängten bedeutenden Mahner innerhalb der Brüderbewegung im „Dritten Reich“, der seinen theologischen Widerstand (von den Nazis als politischer Widerstand eingeordnet) mit dem Leben bezahlte und der zu sorgfältigem Bibelstudium einlädt, das nie dem Zeitgeist unterworfen werden darf.

* Band 1: 1874–1918. Von Osteel bis Berlin. Band 2: 1919–1937. In Wiedenest. Beide Muldenhammer (Jota) 2021.

Hartmut Kretzer

[zuerst erschienen in: Zeit & Schrift 2/2022, S. 32–34]

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