Rezension
Gerhard Jordy (Hrsg.):
150 Jahre Brüderbewegung in Deutschland
Eine Bewegung blickt nach vorn
Dillenburg (Christliche Verlagsgesellschaft) 2003
128 Seiten. ISBN 3-89436-356-8. € 4,90
Laut Einleitung und Covertext soll diese Schrift an das 150. Jubiläum der Brüdergemeinden in Deutschland erinnern und gleichzeitig Außenstehenden die Möglichkeit bieten, Geschichte, Theologie und Leben der Brüderversammlungen kennen zu lernen. Darüber hinaus soll hier Rechenschaft abgelegt werden, inwieweit die Brüderbewegung heute noch den „geistlichen Anliegen der Väter“ entspricht, die sich wiederum den Maßstäben des Wortes Gottes verpflichtet fühlten (S. 10).Dieser Spagat zwischen Jubiläumsschrift, Werbebroschüre und Rechenschaftsbericht wird nur bedingt bewältigt. Nicht näher erläuterte brüderinterne Fachbegriffe wie „Tisch des Herrn“ erschweren den Zugang für Christen anderer Konfessionen. Gleiches gilt für die Vereinnahmung des „allgemeinen Priestertums“ (S. 13.22.45f.) und ähnlicher Begriffe, ohne dass deren Bedeutung und Definition in anderen Konfessionen reflektiert wird. Auch das gewählte Jubiläumsdatum ist nicht unumstritten, hatten sich doch schon zehn Jahre zuvor Brüderversammlungen in Süddeutschland und im Rheinland gebildet, wie Gerhard Jordy zu Recht erwähnt (S. 9). 1853 ist demnach lediglich für die stärker an John Nelson Darby orientierte Gruppe um Carl Brockhaus in Elberfeld Gründungsdatum der deutschen Brüderbewegung.
Der Sammelband vereint zwölf kürzere Aufsätze zu unterschiedlichen Themen der Brüdergeschichte und -theologie. Daran beteiligt sind elf Autoren, die der Brüderbewegung persönlich nahe stehen.
Im ersten Kapitel (S. 1223) gibt Gerhard Jordy einen gerafften Überblick über die Geschichte der Brüderbewegung. Unnötig erscheint die einleitend negativ polemische Abgrenzung gegenüber den Herrnhuter Brüdergemeinen, die als „typisch deutsch obrigkeitsfromm“ in einem „unheiligen Bündnis zwischen Thron und Altar“ befindlich charakterisiert werden. In groben Zügen wird die Entstehung der Brüderbewegung im England des 19. Jahrhunderts, deren Endzeiterwartung und Organisationsfeindschaft skizziert. Ohne Details und Wertung zeichnet Jordy dann die Gründung der ersten „geschlossenen“ und „offenen“ Brüder in Deutschland nach. Biographische Einzelheiten der in diesem Zusammenhang erwähnten Personen werden aufgrund des begrenzten Umfangs des Aufsatzes übergangen. Auch für Außenstehende verständlich werden die organisatorischen Entwicklungen der Brüderbewegung im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit beschrieben. Die Darlegung der gegenwärtigen brüdergemeindlichen Gruppierungen hingegen ist etwas unübersichtlich geraten. Enttäuschend ist in diesem Aufsatz das Fehlen jeglicher historischer Selbstkritik, die angesichts häufiger Spaltungen und nazifreundlicher Tendenzen mancher Teile der Brüderbewegung durchaus nahe läge.
Das zweite Kapitel (S. 2434), verfasst von Arno Hohage, will die Brüderbewegung als Bibelbewegung charakterisieren. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht das Bekenntnis zur göttlich inspirierten Heiligen Schrift, die als absolute Autorität für Lehre und Leben angesehen werden soll, der sich die einzelnen Gemeindeglieder gehorsam unterwerfen. Daneben wird die Bedeutung der sprachlich zuverlässig übersetzten Elberfelder Bibel hervorgehoben (S. 2731) und die Praxis des Bibellesens in Brüderversammlungen und Familien betont. Unnötig sind in diesem Kapitel die erneute polemische Abgrenzung gegenüber Freikirchen, zu denen Brüderversammlungen konfessionskundlich auch gegen ihren Willen gerechnet werden, und die Beteuerung, nur dem Wort Gottes verpflichtet zu sein (S. 24). Sämtliche Freikirchen würden vermutlich dasselbe von dem eigenen Verband behaupten. Darüber hinaus wird so die immense Bedeutung der Schriften Darbys für die Brüderversammlungen übergangen. Leider sind auch die prinzipiell begrüßenswerten Ausführungen zur Inspirationslehre wenig überzeugend. Enttäuschend ist die Tatsache, dass in dem Artikel, der die Brüdergemeinde als Bibelbewegung charakterisieren soll, nur ein einziger Bibelvers zitiert wird, der sich nicht einmal auf den Umgang mit dem Wort Gottes bezieht.
Brüdergemeindliche Spezifika in der Art und Weise der Bibelauslegung erläutert Arno Hohage im dritten Kapitel (S. 3544). Dabei werden besonders hervorgehoben die Beachtung des Textzusammenhangs, der Dispensationalismus, der Prämilleniarismus, die Geistesleitung des Auslegers und die Berücksichtigung typologischer und allegorischer Aspekte. Die Gefahr willkürlicher Bibelauslegung durch das Prinzip der Geistesleitung wird zwar benannt (S. 43), nicht aber reflektiert. Die wiederum begrüßenswerte Ablehnung der Bibelkritik bleibt leider äußerst unkonkret und hilft dem Leser bei Identifizierung und Beurteilung derselben kaum (S. 36f.). Überraschend auch hier, dass trotz der immer wieder beteuerten Orientierung an der Bibel allein für den Umgang mit ihr kaum Textstellen angeführt werden.
Im vierten Kapitel (S. 4551) beschreibt Theodor Dunger die Praxis des allgemeinen Priestertums in den Brüderversammlungen. Er betont die Absicht, jeden Bruder Schwestern werden bewusst nicht erwähnt unter der Leitung des Geistes in den Ablauf der Versammlung einzubeziehen. Im Gegensatz zu den Gottesdienstordnungen anderer Konfessionen zeige sich die Geistleitung der Brüderversammlungen in der nicht geregelten, spontanen Abfolge innerhalb der regelmäßigen Zusammenkünfte. Die in der Bibel genannten Ämter werden ohne theologisch befriedigende Begründung entweder auf die apostolische Zeit beschränkt oder als Dienst Gleicher unter Gleichen gedeutet (S. 48f.). Im Gegensatz zu den Gottesdienstordnungen anderer Gemeinden sieht die Brüdergemeinde die sich auch bei ihr herausgebildeten Traditionen des Versammlungsablaufs als Form, die durch „Geist und Leben“ gefüllt werden kann (S. 49f.). Seine Leser im Unklaren lässt der Autor über die Fragen, warum diese Geisterfüllung nicht auch bei anderen Gottesdienstordnungen geschehen kann und worin die tatsächlichen Unterschiede in der Praxis des allgemeinen Priestertums im Vergleich mit anderen Freikirchen bestehen.
Hans-Jochen Timmerbeil liefert im fünften Kapitel (S. 5260) eine biblische Besinnung der soteriologischen und ekklesiologischen Aspekte des Herrenmahls. Die in diesem Zusammenhang vom Autor gestellte Frage, warum im Gegensatz zu anderen protestantischen Kirchen in der Brüderversammlung das Abendmahl jede Woche gefeiert wird, beantwortet Timmerbeil nicht.
Im sechsten Kapitel (S. 6167) geht es um Endzeitlehre und Naherwartung der Brüder. Historisch vergröbernd wird hier die Brüderbewegung als Erweckungsbewegung gegenüber „einer in Dogma und Amt erstarrten Kirche“ vorgestellt, der die geistliche Zukunftsperspektive verloren gegangen sei (S. 62f.). Deutlich zeigt Dieter Boddenberg, wie Frömmigkeit und missionarisches Engagement der Brüder im 19. Jahrhundert durch deren Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu geprägt wurden. Wurzelgrund dieser Naherwartung war das theologische Konzept des Dispensationalismus (Darbys Einteilung der Geschichte in sieben Heilszeitalter).
Günther Kausemann steuert dem Sammelband einen Aufsatz über das Gemeindeverständnis der Brüderbewegung bei (S. 6876). An ekklesiologischen Aussagen des Neuen Testaments orientiert referiert er über Titel, Aufgaben und Ordnung der Gemeinde. Dabei erwähnt Kausemann auch die Besonderheiten brüdergemeindlicher Theologie: Glaubenstaufe, Geistleitung im Gottesdienst, häufige Feier des Herrenmahls, Schweigen der Frauen, Unabhängigkeit der Einzelgemeinde, Praxis der Gemeindezucht und Finanzierung durch Spenden.
Im achten Kapitel (S. 7794) gibt Reinhard Lorenz einen lebendigen und facettenreichen Überblick über die missionarischen und evangelistischen Aktivitäten der deutschen Brüderversammlungen in den vergangenen 150 Jahren. Trotz langwieriger, selbstkritisch im Artikel genannter theologischer Auseinandersetzungen entfalteten einzelne „Brüder“ evangelistische Aktivitäten mit beeindruckender Breitenwirkung. Neben bekannten Personen wie Carl Brockhaus, Georg von Viebahn, Friedrich Wilhelm Baedeker, Werner Heukelbach und Werken wie Bibelschule Wiedenest oder Barmer Zeltmission werden in diesem historischen Abriss auch Organisationen wie die Studentenmission in Deutschland (SMD) oder das Missionswerk „Neues Leben“ genannt, bei denen der brüdergemeindliche Beitrag in Bezug auf Gründung oder Leitung im Unklaren bleibt.
Arthur Volkmann widmet sich der Bedeutung der Außenmission in der Brüderbewegung (S. 95102). Abgesehen von der Initiative Einzelner wird das außenmissionarische Engagement der deutschen „Brüder“ erst mit der Gründung der „Bibelschule für innere und äußere Mission“ in Berlin 1905 (später Wiedenest) organisatorisch greifbar. Unabhängig davon entstanden Strukturen zur Unterstützung einzelner Missionare, die seit 1952 im „Missionshaus Bibelschule Wiedenest“ gebündelt sind. Besonderen Wert legt Volkmann auf die von Brüderversammlungen beabsichtigte enge Bindung zwischen Missionar und Gemeinde.
Die diakonischen Aktivitäten der Brüderbewegung erläutert Eberhard Platte im zehnten Kapitel (S. 103109). Dabei ist ihm wichtig festzustellen, dass die „Brüder“ ihre diakonischen Bemühungen nicht betrieben, um sich den Himmel zu verdienen, sondern um Gott für die Erlösung zu danken (S. 103). Offenbar konzentrierten sich die sozialen Aktivitäten der „Brüder“ zuerst auf die Förderung von Kindern und Behinderten in verschiedenen Heimstätten. Seit 1915 kamen Senioreneinrichtungen, zwei Freizeitheime, zwei therapeutische Lebensgemeinschaften und das Diakonissen-Mutterhaus „Persis“ dazu. Ferner wurden in jüngster Zeit drei Schulen gegründet und eine Initiative zur materiellen Unterstützung der Christen in den postkommunistischen Ländern des Ostens ins Leben gerufen. Da keine Angaben zu konkreten Zahlen und Konzepten der einzelnen Einrichtungen gemacht werden, kann der Leser über deren Arbeitsweise und Breitenwirkung nur spekulieren.
Im elften Kapitel (S. 110119) reflektiert Karl Otto Herhaus die gegenwärtigen geistlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Brüderbewegung. Nach der Nennung einiger soziologischer, wirtschaftlicher und politischer Allgemeinplätze wie Globalisierung, Gentechnik, Informationsgesellschaft usw. führt der Autor drei Beispiele christlicher Reaktion auf den Zeitgeist an: (a) Der vom Werteverfall geprägten „Erziehung in einer gott-losen Gesellschaft“ will Herhaus die „bewährten Traditionen des christlichen Familienlebens“ entgegenstellen (S. 114). (b) In einer vom vermeintlichen „Verfall der Lesekultur“ bedrohten Gesellschaft sollen Kinder „zu überdurchschnittlichen Lesern“ erzogen werden (S. 115). (c) In einer lockeren „Welteinheitskultur“ sollen Christen offener „vom eigenen Glauben reden“ (S. 116). Wahrscheinlich aufgrund des knapp bemessenen Umfangs finden sich jedoch kaum konkrete Hinweise auf eine christlich-brüdergemeindliche Reaktion auf die Trends der gegenwärtigen Gesellschaft.
Im Schlusskapitel (S. 120128) will Dieter Ziegeler einen Ausblick auf die deutsche Brüderbewegung im 21. Jahrhundert geben. Überschrieben werden könnte der Aufsatz mit „Zurück in die Zukunft“ zu den Wurzeln der Brüderbewegung und noch weiter zurück zur neutestamentlichen Urgemeinde (S. 121f.). Am Anfang steht die Frage, ob Brüdergemeinden noch eine Zukunft haben. Geantwortet wird mit acht ekklesiologischen Feststellungen, die weder in besonderer Weise auf die Zukunft noch auf die besondere Situation der „Brüder“ bezogen sind, dafür aber auf eine breite Unterstützung im Bereich deutscher Freikirchen treffen werden. Ziegeler fordert biblische Maßstäbe für Gemeindebau, verbindliche Gemeinschaft, vorbildliche Ehen, Übernahme neuer Evangelisationsformen, lebensnahe Verkündigung usw. Wenn auch die zukünftigen Herausforderungen der Brüdergemeinde noch etwas spezifischer herausgearbeitet werden könnten, so werden doch allgemeine, zeitlose Prinzipien christlicher Gemeindearbeit in Erinnerung gerufen.
Trotz des schönen, gut lesbaren Druckbildes könnte der Leser durch die ungleichmäßige Formatierung der Aufsätze irritiert werden. Manchmal wird nur die Überschriften durch Fettdruck hervorgehoben, in anderen Kapiteln auch einzelne Worte oder ganze Sätze. Bei einigen Autoren sind korrekte Quellenangaben anzutreffen, andere verweisen lediglich auf empfehlenswerte Literatur zur weiteren Lektüre, wieder andere verzichten gänzlich auf Angaben zum theologischen Umfeld ihrer Ausführungen.
Sicher handelt es sich bei dieser Publikation um kein Studienbuch. Auch der säkulare Leser dürfte aufgrund des häufig anzutreffenden gemeindlich-christlichen Jargons gelegentlich auf Verständnisschwierigkeiten stoßen. Darüber hinaus ist das Buch aber durchaus sehr informativ und kann Christen anderer Konfessionen dabei helfen, das Selbstverständnis der deutschen Brüderversammlungen kennen zu lernen. Für die Christen der Brüderversammlung bietet der übersichtliche Band die Möglichkeit, sich konstruktiv mit den eigenen geistlichen Wurzeln auseinander zu setzen und sich der eigenen Prägung zu vergewissern.
Michael Kotsch
[zuerst erschienen in: Jahrbuch für evangelikale Theologie 18 (2004), S. 335339]
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