Rezension


Edwin Cross:
William Kelly – sein Leben und Werk
(1821–1906)
Hückeswagen (Christliche Schriftenverbreitung) 2010
231 Seiten. ISBN 978-3-89287-389-1. € 19,90


Was tut man, wenn man seine Auslegung fundiert absichern möchte? Manche erwähnen zu diesem Zweck, dass „ein alter Bruder“ dies gesagt habe. Andere fügen noch hinzu: „der bereits beim Herrn ist“. Eine besonders sichere Methode in vielen Versammlungen der „Brüder“ ist es, sich auf William Kelly zu berufen. – Wer war dieser Mann, der zu seiner Zeit in England sehr bekannt und geachtet war und ein umfangreiches Werk hinterlassen hat, das auch heute noch rezipiert wird?

William Kelly wurde 1821 in Irland geboren und starb 1906. Er studierte an der Universität in Dublin, wo seine Begabung für die klassischen Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Latein) gefördert wurde. Nach fleißigem Studium erwarb er 1841 den „Bachelor of Arts“ (Hochschulabschluss der Geisteswissenschaften) mit höchsten Ehren in den alten Sprachen. Da er zu jung dafür war, Geistlicher in der irischen Staatskirche zu werden, wurde er zunächst Hauslehrer auf der Insel Sark. Hier erlebte er das, was er stets als das herausragendste und wichtigste Ereignis seines Lebens betrachtete: das Bewusstsein der persönlichen Seelenrettung. Zum Durchbruch kam er, als eine Christin ihn auf einige Verse im ersten Johannesbrief hinwies: „Wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen – das Zeugnis Gottes ist größer; denn dies ist das Zeugnis Gottes, das er bezeugt hat über seinen Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis Gottes in sich selbst; wer Gott nicht glaubt, hat ihn zum Lügner gemacht, weil er nicht an das Zeugnis geglaubt hat, das Gott bezeugt hat über seinen Sohn“ (1. Johannes 5,9.10).

Als er 60 Jahre später während eines öffentlichen Vortrags in Blackheath diesen Text aus dem Johannesbrief zitierte, bemerkte er dazu: „Ich erinnere mich an die gottgewirkte Erleichterung und Befreiung, die diese Worte vor mehr als sechzig Jahren meiner Seele gaben, als ich zwar bekehrt, aber durch das Bewusstsein der Sünde tief beunruhigt und geübt war, sodass mir die Ruhe in dem Herrn Jesus genommen wurde. Doch dieser Vers verscheuchte jeden Zweifel, und ich musste mich schämen, das Zeugnis Gottes infrage gestellt zu haben. Gott benutzte diesen Vers, um die Wahrheit auf mich anzuwenden, sodass ich nicht mehr auf mich selbst blickte, obwohl ich den Wert des Sühnungstodes Christi für den Sünder nicht bezweifelt hatte. Es kommt nicht darauf an, ob ich selbst die Wirksamkeit des Blutes völlig erkenne, sondern ich darf mich im Glauben darauf stützen, dass Gott das Blut sieht und es seinem ganzen Wert gemäß einschätzt.“ Mit diesen Worten erklärte Kelly die große Wende, die der erste Schritt war auf dem Weg, der Mann Gottes zu werden, der er wurde.

Als er dann die damals üblichen kirchlichen Praktiken sorgfältig im Licht des Neuen Testaments studierte, kam er zu folgendem Ergebnis: „Es ist ganz offensichtlich, dass die einzig wesentliche Frage die Frage nach dem Willen des Herrn ist – unabhängig davon, was andere tun mögen. Es geht nicht darum, andere dazu zu bringen, meiner Erkenntnis gemäß zu wandeln, sondern es geht darum, dass ich selbst nicht in ihrer Dunkelheit wandle. Dies ist der springende Punkt: nicht dass ich mich mit anderen beschäftige und ihnen vorschreibe, was sie tun sollen, sondern dass ich meine eigene Sünde ebenso wie die gemeinsame Sünde empfinde und doch durch Gnade den Entschluss fasse, um jeden Preis dort zu sein, wo ich den Herrn ehren und ihm gehorsam sein kann.“ Mit diesen Worten erklärte er, warum er die Staatskirche verließ.

Bis hierhin waren ihm die Schriften John Nelson Darbys und anderer „Brüder“ bereits eine Hilfe gewesen, doch hatte er noch nie einen dieser Brüder getroffen. Im Folgenden kam er mit ihnen in Kontakt, und sein Dienst bis zu seinem Tod geschah schwerpunktmäßig in den Versammlungen der „Brüder“. Er hielt viele Vorträge (die zum Teil mitstenographiert wurden), veröffentlichte zahlreiche Auslegungen und Bibelkommentare und gab die Zeitschrift The Bible Treasury heraus. Zur Mitarbeit darin schrieb er: „Arbeiten von wirklichem Wert sind natürlich gestattet, gleichgültig wer sie verfasst hat – außer von solchen, die einen bösen Lebenswandel führen oder Christus gegenüber gleichgültig sind und so das gute Zeugnis seines Namens zerstören.“ Generell wandte sich Kelly weder nur an die „Brüder“ noch an einen ausschließlich evangelikalen Leserkreis. Die Verteidigung des Glaubens allgemein sowie die Mission hatten ebenso einen festen Platz in seiner Arbeit. Dabei war es ihm hilfreich, dass er sich gut in alten Mythologien, modernen Theorien und orientalischen Sprachen auskannte. Von seiner umfassenden Belesenheit zeugt auch seine Bibliothek, die am Ende seines Lebens 15.000 Bände umfasste.

Während seiner Lebenszeit kam es bekanntlich zu etlichen Trennungen unter den „Brüdern“ in England. Ein Außenstehender sagte dazu: „Die ‚Brüder‘ sind wie Zoophyten [Meerestiere], die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von ihrem Elternstamm abtrennen und dann ein eigenständiges Leben beginnen. Die ‚Brüder‘ tun dies ebenso. Nur erkennen sie danach ihre Verwandten nicht mehr an.“ Und ein anderer: „Die ‚Brüder‘ sind bemerkenswerte Leute in der Hinsicht, dass sie das Wort der Wahrheit richtig, sich selbst aber falsch teilen.“

Neben anderen negativen Folgen führten diese geistlichen Kämpfe auch zu finanziellen Verlusten im Zusammenhang mit The Bible Treasury. Infolge dieser allgemeinen Belastungen litten Kellys Familienmitglieder an gesundheitlichen Beeinträchtigungen. So verschlimmerte sich z.B. der Gesundheitszustand seiner Frau zusehends, sodass sie bald starb.

Grundsätzlich war Kelly gegen alle „kirchliche Anmaßung“. Seine Überzeugungen und festen Grundsätze leiteten ihn jedoch nicht zu pauschalen Verurteilungen. In Bezug darauf, Anhänger für die eigene lehrmäßige Position bei den Streitfragen zu suchen, sagte er: „Ich weigere mich, wie ein Feldwebel herumzureisen, der Rekruten anwirbt.“ So fungierte er auch nach der Trennung von Darby weiterhin als Herausgeber von dessen gesammelten Schriften.

Die vorliegende Biographie von Edwin Cross ist 2004 in England und kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen. Sie ist die erste größere Biographie über William Kelly, und somit muss zunächst die Mühe des Autors gewürdigt werden. Weiterhin ist positiv zu vermerken, dass die Ausgabe zahlreiche Abbildungen enthält, eine Bibliographie, ein Register und sowohl erklärende Fußnoten des Autors als auch zusätzliche von den deutschen Herausgebern.

Die Lektüre dieses Buches ist jedem Interessierten auf jeden Fall zu empfehlen, auch weil hier umfangreiches Quellenmaterial (auch aus säkularen Zusammenhängen) zu Wort kommt. Der Autor selbst schreibt: „Ich hoffe, dass diese Zeilen den Leser ermuntern, Kelly zu lesen, und dass das Lesen der Bücher Kellys ihn wiederum dazu anspornt, das beste Buch überhaupt zu lesen.“ Und: „Der Biograf hofft, dass der Leser zu der Quelle geführt wird, die Kelly selbst motivierte, und dass er in Gehorsam dem Weg folgt, den Christus jedem Kind Gottes zeigt. Ein Leben mit all seinen Fehlern zu skizzieren, mag wohl die Neugier befriedigen, aber ausführlich über Unzulänglichkeiten und Schwächen des Fleisches zu berichten, erbaut niemanden. Mein Quellenmaterial darf in dieser Hinsicht von künftigen Forschern gerne zurate gezogen werden.“

Dass Cross negative Aspekte bewusst weglässt, ist legitim. Allerdings lässt er durchaus auch kritische Stimmen zu Wort kommen. Positiv fällt weiterhin auf, dass der Text bis auf zwei Fußnoten relativ sachlich ist. (In einer dieser Fußnoten behauptet der Autor z.B., dass der Aspekt des gottesfürchtigen Lebens „leider heute selten verstanden wird, wo in der Christenheit ein unheiliges Leben an der Tagesordnung ist und man alles laufen lässt“.)

Trotz des allgemeinverständlichen Sprachniveaus ist die Lektüre nicht ganz leicht, da der Autor sehr viele Personen erwähnt und Hintergründe andeutet, die noch nicht einmal dem mit der Brüdergeschichte durchschnittlich vertrauten Leser bekannt sein dürften. Dies kann zum Teil ermüdend sein. Auch hat man bei der Lektüre öfter den Eindruck, keinen zusammenhängenden Text zu lesen, sondern eine Art Aufzählung (was auch an der manchmal mangelnden gedanklichen Verzahnung einzelner Passagen liegt). Weiterhin sind unnötige Wiederholungen in den Formulierungen und in der Darstellung vorhanden. Auch hätten die abgedruckten englischen Lieder übersetzt werden können.

Alles in allem kann man dem (leider schon verstorbenen) Autor und auch dem deutschen Verlag für die Herausgabe dieses Buches danken. Können wir doch alle von dem bescheidenen Auftreten, dem Fleiß, der Gottesfurcht, Treue und Nüchternheit Kellys lernen. (Wer sich in kurzen Artikeln mehr über Kelly informieren möchte, der findet bei soundwords.de zwei Texte über ihn. Dort sind auch Auslegungen zu finden. Ebenso auf bibelkommentare.de.)

Jochen Klein

[auch erschienen in: komm und sieh 19, April–Juni 2010, S. 26f.]


Links zu weiteren Rezensionen dieses Buches:
• Wolfgang Bühne in fest und treu 2/2010

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