Interview mit Axel Volk

Seit den 1990er Jahren ist es in Kreisen der „geschlossenen Brüder“ zu zahlreichen Trennungen gekommen; bundesweit entstanden sog. „blockfreie“ Gemeinden. In dem neu erschienenen Buch Getrennte Brüder ... dabei wollten sie doch die Einheit bewahren (Daniel-Verlag 2015) reflektiert Axel Volk theologische Hintergründe dieser Entwicklungen. Im Gespräch mit bruederbewegung.de erläutert er, warum er einen echten, gemeinsamen Neuanfang immer noch für möglich hält und warum das persönliche Glaubensleben und die innere Haltung der Beteiligten dafür eine entscheidende Rolle spielen.


Frage: Du hast – verzeih mir diesen provokanten Einstieg – ein Buch für ein absolutes Nischenpublikum geschrieben. Ein Bevölkerungsanteil von ca. 0,05 % zählt sich in Deutschland zu einer Brüdergemeinde. Davon wiederum gehört grob geschätzt nur die Hälfte einer „geschlossenen“ oder „blockfreien“ Brüdergemeinde an. Du thematisierst Glaubensfragen, die zwischen diesen beiden Gruppen strittig sind. Das kann man schon vom Vokabular („Trennungsbriefe“), schon von der Fragestellung her einem Außenstehenden ohne Vorwissen kaum verständlich erklären. Was hat dich motiviert, dich zeitintensiv Fragen zu widmen, die nur wenige Menschen einer zurückgezogenen religiösen Randgruppe und einer davon wiederum abgespaltenen noch kleineren Splittergruppe beschäftigen? Worum geht es dabei?

Axel Volk: Nun, ehrlich gesagt habe ich mir über statistische Zahlen in diesem Zusammenhang noch nie Gedanken gemacht. Ich bin auch über andere Statistiken nicht auf dem Laufenden: Wie groß mag wohl der Anteil derjenigen Deutschen sein, die den aufrichtigen Herzenswunsch haben, nach bibeltreuen Gemeindeprinzipien zu leben? Ich denke, egal wie viele das sind, es ist eine Personengruppe, die Gott besonders am Herzen liegt. Denn diese Christen sind seine Lichtträger, sind das Salz in einer zunehmend gottlosen Gesellschaft. Wo ich kann, möchte ich diese Glaubensgeschwister gerne stärken und ihnen eine Hilfe sein. Dem Herrn sei Dank, hat er mir dazu in den vergangenen Jahren zunehmend auch Türen außerhalb der Brüderbewegung geöffnet. Das sind wertvolle Erfahrungen, um vor einer falschen „Elias-Haltung“ bewahrt zu bleiben (nämlich wie Elias in 1. Könige 18,22 zu denken: „Ich allein – bzw. wir allein, diese kleine Splittergruppe – sind übriggeblieben“).

Aber was meinen persönlichen geistlichen Werdegang betrifft, verdanke ich dieser kleinen „Splittergruppe“, wie du sie nennst, sehr viel. Ich durfte dort meine ersten Glaubensschritte tun und geistlich wachsen. Ich durfte viele vorbildliche Glaubensgeschwister kennen und lieben lernen, die mich angeleitet haben, die Anbetung des Herrn in den Mittelpunkt zu stellen und biblische Maßstäbe an das persönliche und das gemeindliche Leben anzulegen. Diesen Geschwistern gegenüber stehe ich in der Schuld. Mit großer Traurigkeit habe ich nun jahrelang miterlebt, wie viele dieser Brüder und Schwestern durch die Gemeindetrennungen schwer getroffen sind und wie sehr das gemeinsame Zeugnis geschwächt worden ist. Da war es für mich keine Frage, ob es sich „lohnte“, so viel Zeit und Kraft für die Thematik des Buches zu investieren. Es war ein aufrichtiges Herzensanliegen.

Frage: Mir scheint, man kann dich getrost als unverbesserlichen Optimisten bezeichnen. Immer wieder schimmert bei dir die Hoffnung durch, Gott könne einen neuen Aufbruch in „geschlossenen“ Brüderversammlungen, ein neues Miteinander mit derzeit getrennten Geschwistern schenken (etwa S. 17, 65, 123f., 233). Was stimmt dich hier so optimistisch?

Axel Volk: Wenn du mich persönlich näher kennen würdest, wärest du wahrscheinlich noch viel erstaunter über diese hoffnungsvolle Haltung. Von meinem Wesen her bin ich nämlich eher das Gegenteil eines Optimisten. Und solange ich nur horizontal schaue, also auf die beteiligten Menschen, auf die gesamte „Brüdergeschichte“ oder auf meine eigenen wenigen Erfahrungen innerhalb der „Brüdergemeinden“, finde ich auch wahrlich keinerlei Grund für Optimismus; selbst wenn es in der Geschichte doch vereinzelte Lichtblicke gab wie etwa die sogenannte Lowe-Kelly-Wiedervereinigung im Jahr 1926.

Meinen Optimismus ziehe ich einzig und allein aus dem Glauben, dass „bei Gott kein Ding unmöglich ist“ (Jer 32,17). Nur wer im Vertrauen auf diese Tatsache scheinbar Aussichtsloses in Angriff nimmt, wird auch entsprechende Erfahrungen machen. Wenn ich daran nicht festhalten würde, dann hätte ich manche Dienste längst aufgegeben: dann würde ich manchem verhärteten Mitmenschen nicht zum x-ten Mal das Evangelium bezeugen, dann würde ich manchen Schwachen im Glauben, der wieder und wieder in seine alten Sünden rutscht, nicht immer wieder aufs Neue aufrichten und ermutigen, und vieles andere ... Aber im Vertrauen auf meinen großen Herrn möchte ich doch immer weiter das tun, was ich tun kann, und in diesem Vertrauen habe ich auch das Buch geschrieben.

Frage: Mich beeindruckt deine zurückhaltende, teilweise geradezu sanft werbende Art der Argumentation. Du möchtest erkennbar die Gegenseite brüderlich gewinnen, vermeidest frontale Angriffe und streust immer wieder Hinweise auf persönliche Betroffenheit ein (etwa auf S. 52 und 75). Ich halte allerdings auch die Motive, die Willem J. Ouweneel einmal auf Seiten der führenden „geschlossenen Brüder“ als wahren Grund hinter all den theologisch begründeten Trennungen vermutete (nämlich Macht, Eifersucht, Geld, Dummheit und Angst), für recht plausibel. Wie schätzt du das ein – geht es bei den Auseinandersetzungen, die du erneut reflektierst, überhaupt in erster Linie um theologische Sachfragen?

Axel Volk: W. J. Ouweneel ist ein sehr scharfer Denker, der seit den 80er-Jahren sicher manche Missstände in den „geschlossenen Brüderversammlungen“ richtig analysiert hat. Trotzdem ist sein Werdegang mir zugleich ein warnendes Beispiel. Welche Auffassungen er heute teilweise vertritt, ist für viele Geschwister, die ihn früher als Bibellehrer überaus geschätzt haben (wozu ich mich selbst übrigens auch zähle!), einfach nur erschreckend. Wie ist es möglich, dass man in seinem Denken auf so einen völlig anderen Kurs gerät? Ich will mir nicht anmaßen, per Ferndiagnose zu mutmaßen, was in seinem Herzen geschehen ist. Aber eine Frage ist vielleicht erlaubt: Waren es womöglich Frust und Verbitterung über manche negativen Erfahrungen mit deutschen Brüdern, die als Auslöser dienten, um sein Herz in eine falsche Richtung zu wenden? Ich habe meinen Herrn oft gebeten, dass er mich vor solcher Verbitterung bewahren möge, damit ich nicht auch, was mein geistliches Urteilsvermögen betrifft, auf einen abschüssigen Weg abrutsche.

Wenn ich das Interview mit W. J. Ouweneel auf bruederbewegung.de lese, dann fällt mir auf, dass er darin ausschließlich horizontal argumentiert. Er analysiert z.B. die unterschiedliche Mentalität von Deutschen und Holländern und die Machtstrukturen in den deutschen „geschlossenen Brüderversammlungen“. Aber gibt es nicht immer auch noch eine andere Perspektive, die viel wichtiger für uns ist? Was will Gott uns mit den Trennungen sagen? Warum hat er das alles zugelassen? Welche Dinge in unseren Herzen möchte er aufdecken? Mir ist das Beispiel von David in 2. Samuel 16 immer ein schönes Vorbild. Als er auf der Flucht vor Absalom war, begegnete ihm ein gewisser Simei, der ihn übel beleidigte. Davids Männer reagierten zornig. Sie dachten ausschließlich horizontal und wollten dem gemeinen Kerl sofort den Mund stopfen. Aber David wusste, dass es noch eine andere Sicht gab. Er sah darin auch eine schmerzliche Erziehungsmaßnahme Gottes. Diese Sicht möchte ich auch im Nachdenken über die Trennungsprobleme der Gegenwart einnehmen. Mutmaßungen über die tiefsten Motive von Brüdern anzustellen ist nicht meine Aufgabe, sondern das sollten wir dem Herrn überlassen.

Frage: Du hältst – wie ich finde, nachvollziehbar – fest, dass sich die Diskussionen im Zuge der Trennungswelle (also der fortgesetzten Aufkündigung der Gemeinschaft mit zahlreichen Gemeinden durch Nachbarversammlungen) vor allem „mit den vordergründigen Fragen (nämlich gewissen Lehrfragen, die sich aus Gottes Wort nur indirekt ergeben) beschäftigt und viel zu wenig nach der tieferen Ursache gefragt“ wird (S. 54). Du diagnostizierst: „Die ‚Brüderbewegung‘ ist seit langer Zeit ‚krank‘“, nun gelte es, nicht an Symptomen herumzudoktern, sondern „nach dem Keim dieser Krankheit zu suchen“ (S. 63). Wo liegt denn dann die eigentliche „Wurzel“ der Probleme (S. 139)?

Axel Volk: Mir scheint, dass sich im Lauf der „Brüdergeschichte“ auf schleichende Weise die Prioritäten verschoben haben. An einer Stelle im Buch vergleiche ich das mit der Geschichte der Pharisäer. Auch die hatten einen guten Anfang, wollten sich konsequent am Wort Gottes ausrichten und sich rein erhalten. Im Lauf der Zeit wurde ihnen dann aber die äußere Reinheit immer wichtiger, während sie es versäumten, auf ihre eigenen Herzen achtzugeben. Allein die Bedeutung des Namens „Pharisäer“ („Abgesonderte“) muss uns als „abgesonderte Splittergruppe“ der Christenheit, um auf den Anfang des Interviews zurückzukommen, aufhorchen lassen. Wenn ich den geistlichen Hochmut als das Kernproblem der „geschlossenen Brüder“ ausmache, dann ist das kein Unterstellen von Beweggründen, sondern mir ist diese Haltung in vielfachen Äußerungen immer wieder offen begegnet. Ich will auch nicht alle meine Brüder und Schwestern über einen Kamm scheren, denn ich habe viele aufrichtige und echt demütige unter ihnen kennengelernt. Nein, sondern ich meine dieses kollektive Selbstverständnis: „Wir sind die Christen, die sich in rechter Weise von allen menschlichen Benennungen und Kirchensystemen abgesondert haben und den Herrn Jesus in unserer Mitte haben.“

Die „richtigen“ Versammlungsgrundsätze, die konsequente Absonderung von anderen Christen werden letztlich höher gewichtet als die persönliche Hingabe, die Lauterkeit des eigenen Herzens und die Treue im persönlichen Glaubensleben. Die brennenden Fragen unserer Zeit (Wie können wir inmitten unserer Konsum- und Mediengesellschaft ein Leben der Hingabe führen? Wie können wir in einer Zeit, wo die moralischen Werte auf den Kopf gestellt werden, als Christen echtes Licht verbreiten?) werden sträflich vernachlässigt, während wir uns über spitzfindige Einheitsfragen streiten und treuen, hingegebenen Glaubensgeschwistern die Abendmahlsgemeinschaft verweigern.

Ich bin überzeugt, dass der Herr uns auf diese Verdrehung der Prioritäten aufmerksam machen will, dass er uns wachrütteln will. Hoffentlich reagieren wir anders als die Pharisäer damals. Ihre Herzen waren längst weltförmig geworden, während sie mit aller Schärfe für das Verzehnten von Küchenkräutern und für richtig gewaschene Hände bei den Mahlzeiten kämpften.

Frage: Täuscht mein Eindruck, oder beschäftigt sich dein Buch dann doch zum weitaus größten Teil mit Lehrfragen und weniger mit der tieferen Ursache? Bleibst du damit nicht auch bei den „vordergründigen Fragen“ stehen?

Axel Volk: Dieser Eindruck entsteht ungewollt durch die reine Quantität der jeweiligen Ausführungen. Ein falsches Lehrgebäude zu „entwirren“ kostete letztendlich doch mehr Zeit (bzw. mehr Seitenzahlen), als mir lieb war. Das liegt daran, dass es sich nicht um einzelne falsche Lehrmeinungen handelt, die man schnell aufdecken kann, sondern um eine Schlussfolgerungskette. In dieser Kette wurden verschiedene biblische Prinzipien (wie „Einheit des Geistes bewahren“ und „sich von Gefäßen zur Unehre wegreinigen“) auf unzulässige Weise zu einem Geflecht verknüpft. Solche Verknüpfungsfehler aufzuzeigen ist ein recht mühsames Geschäft. Ich glaube aber, dass es nötig ist. Vielen Geschwistern hat man jahrelang auf redegewandte Weise vermittelt, dass das Festhalten an diesem Lehrgebäude gleichbedeutend sei mit dem Festhalten an den richtigen Gemeindegrundsätzen. Erst wenn dieses Lehrgebäude in sich zusammenfällt, ist meines Erachtens ein echter Neuanfang möglich. Erst dann kann vielen Geschwistern vielleicht bewusst werden, dass sie sich ungewollt von einem versteckten geistlichen Hochmut haben anstecken lassen und dass sie vielen treuen, hingegebenen Brüdern und Schwestern gegenüber schuldig geworden sind, indem sie ihnen die Gemeinschaft am Tisch des Herrn verweigert bzw. aufgekündigt haben.

Frage: Eine deiner Kernaussagen scheint mir zu sein, dass du differenzierst zwischen einer „Einheit der Versammlung“ und einer „Einheit der Versammlungen“ (S. 100). Wo genau liegt da der Unterschied?

Axel Volk: Die „Einheit der Versammlung“ ist zunächst einmal das, was der Heilige Geist geschaffen hat. Es ist der „eine Leib“, zu dem alle wahren Kinder Gottes gehören, die zwischen Pfingsten und der Entrückung je gelebt haben. Diese Einheit ist ein Werk Gottes und besteht unabhängig von allem menschlichen Bemühen bzw. menschlichen Versagen. Trotzdem möchte Gott, dass diese Einheit nicht nur eine unsichtbare Wirklichkeit bleibt, sondern auch praktisch gesehen wird. Deshalb existieren auf dieser Erde örtliche Gemeinden (Versammlungen), in denen Christen zusammenleben. Sie sind aufgefordert, trotz aller kulturellen und sozialen Unterschiede und auch trotz mancher unterschiedlichen Empfindungen zusammenzuhalten und Frieden zu bewahren. Jede örtliche Gemeinde soll auf diese Weise eine verkleinerte Abbildung, eine Darstellung, des unsichtbaren ganzen Leibes sein.

„Einheit der Versammlungen“ meint dagegen etwas, das im Neuen Testament nirgendwo ausdrücklich thematisiert wird. In diesem Lehrgebäude wird behauptet, dass Beschlüsse, die eine örtliche Versammlung fasst, immer automatisch weltweit gelten. Mit „Beschlüssen“ sind dabei im Wesentlichen Entscheidungen gemeint, mit welchen Personen (Christen) man beim Brotbrechen christliche Gemeinschaft ausdrückt. Wenn Versammlung A eine Person zum Brotbrechen aufnimmt (bzw. abweist), dann müssen sich alle anderen örtlichen Versammlungen dieser Person gegenüber in gleicher Weise verhalten; sonst würden sie angeblich die Einheit zerstören.

Frage: Warum sollten wir deiner Ansicht nach (S. 144) sogar eher von der „Einheit des Geistes“ statt der „Einheit der Versammlung“ reden?

Axel Volk: Der Ausdruck „Einheit der Versammlung“ kommt wörtlich in der Bibel nicht vor. Das an sich ist noch kein Grund, ihn zu meiden, denn auch das Wort „Dreieinheit“ kommt nicht vor und wir sind doch überzeugt, dass es die Wirklichkeit Gottes zutreffend beschreibt. So ist es auch zutreffend, dass die Versammlung, wie der Heilige Geist sie gebildet hat, eine Einheit darstellt. Nur leider ist dieser Begriff das erste Glied in der schon erwähnten fehlerhaften Schlussfolgerungskette geworden. Im nächsten Schritt wurde daraus die „Einheit der Versammlungen“, was schon keine Grundlage mehr im Wort Gottes hat. Und schließlich entstand die Vorstellung von einem weltweiten Kreis miteinander verbundener örtlicher Versammlungen, die in allen Beschlussfragen stets einheitlich handeln müssen.

Einheitliches Handeln lässt sich durch formalistisches Vorgehen oder auch durch Zwang sicherstellen. Es ist also etwas, das sich mit menschlichen Mitteln erreichen lässt. Der biblische Ausdruck „Einheit des Geistes“ erinnert hingegen daran, dass es sich um ein übernatürliches Wunder handelt. In neutestamentlicher Zeit haben Menschen und Engel darüber gestaunt, dass ehemalige Juden und Heiden zu einer Einheit zusammengefügt wurden. Das konnte kein Menschenwerk sein. Der Ausdruck „Einheit der Versammlung“ ist zwar zutreffend, aber er beschreibt mehr das Ergebnis als die Quelle dieser Einheit. Mir fehlt darin der Aspekt der Einzigartigkeit. Auch Menschen dieser Welt bringen gewisse Einheiten zustande, z.B. durch diktatorischen Zwang oder durch die Bereitschaft, sich Mehrheitsbeschlüssen zu fügen. Aber die „Einheit des Geistes“ ist etwas völlig anderes. Sie hat damit zu tun, dass Gottes Geist Menschen verändert, dass er in ihnen Gesinnungen bewirkt (wie Sanftmut, Demut und gegenseitiges liebevolles Ertragen). Wenn ich also lieber von der „Einheit des Geistes“ als von der „Einheit der Versammlung“ reden möchte, dann deshalb, weil es den Fokus verlagert. Im ersten Begriff geht es im Kern um geistliche Gesinnungen (und das ist das Entscheidende im Christenleben!), im zweiten Begriff kann man den Fokus davon weglenken und stattdessen auf einem erzwungenen einheitlichen Handeln bestehen.

Frage: Du greifst die historischen Vorwürfe der „Brüder“ vom Anfang des 19. Jahrhunderts Freikirchen gegenüber auf (S. 45: es werden „Satzungen aufgestellt, Mitgliederlisten geführt und Abgrenzungen zu anderen Freikirchen aufgebaut“, S. 47: sie bauen einen „Zaun“ um sich herum). Das sind doch alles Einschätzungen, die, wie du selber z.B. auf S. 49f. andeutest, faktisch auf Brüdergemeinden auch zutreffen – dort werden sie nur meist informeller und weniger transparent, aber nicht weniger wirksam umgesetzt, oder?

Axel Volk: Das ist leider nur zu wahr. Und ich denke, dass es zu den Dingen gehört, die Gott durch die Trennungen offenbar machen wollte. So vieles, was wir anderen kirchlichen Richtungen vorwerfen, haben wir selbst genauso praktiziert; nur ohne es beim Namen zu nennen und ohne es uns selbst einzugestehen. Letztlich ist das eine Form der Heuchelei, sei es bewusst oder unbewusst.

Wenn ich die geschichtlichen Quellen richtig verstehe, dann sahen die Anfänge der „Brüderbewegung“ anders aus. Damals hat man es ernst gemeint damit, dass alle treuen Christen, egal woher sie kamen oder wo sie noch Mitglied waren, am „Tisch des Herrn“ willkommen sein sollten. Doch je länger die „Brüderbewegung“ bestand und je mehr sie wuchs, umso mehr gingen diese ersten Ideale verloren und es entstanden eben doch wieder starre Strukturen. Manche der ursprünglichen Ideale waren vielleicht auch nicht bis zu Ende durchdacht. Ich spreche das in meinem Buch an einer Stelle an: Zu einem funktionierenden Gemeindeleben gehört auch Verbindlichkeit. Wenn man aber formale Mitgliedschaft ablehnt, dann muss man die verbindliche Zugehörigkeit irgendwie anders regeln. Wer gilt als „drinnen“ und wer als „draußen“, wer fällt unter die Aufsicht und Gemeindezucht der örtlichen Gemeinde? Das sind ganz praktische Fragen, um die man auch in „Brüderversammlungen“ nicht herumkommt. Da mag man die ungeliebten Begriffe wie „Mitgliedschaft“ meiden, aber damit hat das Kind nur einen anderen Namen bekommen.

Frage: In den letzten Jahren sind viele Gemeinden „außerhalb der Gemeinschaft“ gestellt worden. Warum bleiben die „Blockfreien“ auch jetzt noch mehr oder weniger unter sich, anstatt sich bestehenden Gemeinden anzuschließen? Was unterscheidet „blockfreie“ Gemeinden z.B. von „Freien Brüdern“? Oder wollte man einfach als Kreis von heimatlos Gewordenen erst einmal unter sich bleiben, um gegenseitig Wunden zu lecken?

Axel Volk: Nun, ich kann gewiss nicht für alle „blockfreien Versammlungen“ sprechen; dazu sind sie untereinander zu verschieden. Was diejenigen betrifft, mit denen ich am meisten Kontakt habe, so sind sie eigentlich alle unfreiwillig in ihre jetzige Situation geraten. Sie haben nicht von sich aus die Trennung angestrebt, sondern sie sind, wie du es ausdrückst, „außerhalb der Gemeinschaft gestellt worden“. Es gab nirgendwo den Wunsch – auch wenn das von der „geschlossenen Seite“ immer wieder unterstellt wird –, einen neuen Kurs einzuschlagen. Neu (und unbiblisch) war vielmehr das, was die „geschlossenen Brüder“ in den letzten Jahren mit ihren Trennungsbeschlüssen praktiziert haben. Das konnten wir von unserem Gewissen her nicht mitmachen. Niemand von uns hat gesagt: „So, wir möchten ab jetzt blockfreie Versammlungen sein“, sondern wir fanden uns auf einmal draußen wieder, außerhalb des „geschlossenen Verbundes“, weil wir unser Gewissen vor Gott nicht verbiegen wollten.

Dementsprechend haben wir jetzt nicht plötzlich unsere früheren Überzeugungen über Bord geworfen. Würden wir uns von heute auf morgen neu orientieren, dann würde man zu Recht in Frage stellen, ob wir überhaupt jemals feste Überzeugungen hatten, was die Prinzipien des Gemeindelebens angeht. Sicherlich ist es auch nicht gut, nach einem schmerzhaften Trennungserlebnis den Rest des Lebens verbittert und isoliert zu bleiben. Aber ebenso verkehrt wäre es, jetzt irgendetwas zu überstürzen. Ich denke, es muss für uns alle eine Zeit intensiven Betens und Fragens nach dem Willen Gottes sein.

Frage: Siehst du „blockfreie“ Brüdergemeinden eigentlich inzwischen als Freikirche, als eine Gemeinderichtung? Oder hältst du auch nach der Abnabelung von den „geschlossenen Brüdern“ noch fest an deren Selbstbild, sich als eine Art neutraler Boden außerhalb aller bestehenden Kirchen und Freikirchen anzusehen, „in Absonderung von allem Bösen und ohne jede menschliche Organisation oder Benennung“? Dein Satz auf S. 20, dass die „blockfreien Brüder“ daran festhalten, „dass sie eben keine spezielle Benennung haben, sondern einfach als gläubige Christen zusammenkommen, welche die Wahrheit von dem einen Leib verwirklichen“ (S. 20), könnte so verstanden werden.

Axel Volk: Wie schon gesagt, glaube ich, dass die „geschlossenen Brüderversammlungen“, wie sie sich in jüngster Vergangenheit präsentiert haben, ihrem eigenen Selbstbild nicht mehr entsprechen. Das, was sie bekennen zu sein, stimmt mit dem, wie sie in der Praxis handeln, nicht überein. Ich bin aber auch nicht so vermessen zu sagen, dass die „blockfreien Versammlungen“ nun diejenigen sind, die es endlich wieder richtig machen.

Ich glaube vielmehr, dass die Hand Gottes auf uns liegt, damit wir umkehren, unsere kollektive Selbstüberschätzung erkennen und bekennen und im Vertrauen auf seine Gnade noch einmal einen Neuanfang versuchen. Mit „wir“ meine ich dabei nicht die „Blockfreien“ als neue Gruppe, sondern mein Herzenswunsch ist der, den ich in dem Buch zum Ausdruck bringe: ein erneutes Zusammengehen der jetzt getrennten Brüder im Geist echter Demut und Bruderliebe, nicht nur untereinander, sondern allen Heiligen gegenüber.

Frage: Konkreter gefragt: Vertrittst du einen „Alleinvertretungsanspruch“ „blockfreier“ Brüdergemeinden; müssten deiner Meinung nach im Optimalfall alle Christen eigentlich ihre Heimatkirchen und Freikirchen verlassen und sich einer „blockfreien“ Gemeinde anschließen? Oder sind „blockfreie“ Gemeinden nur eine Gemeindeform neben vielen anderen (die Fußnote 61 auf S. 198f. bleibt hier etwas vage ...)?

Axel Volk: Ich denke, ein solcher „Alleinvertretungsanspruch“ ist eine Wurzel allen Übels. Wir sollten als Begnadigte gar nicht so viel darüber nachdenken, was wir jetzt darstellen oder was wir richtig gemacht haben. Das nährt nur das Gift des Stolzes in uns. Wir sollten vielmehr täglich anschauen, welche Gnade wir erfahren haben, wie viel unser Herr Jesus für uns getan und wie viel er uns geschenkt hat. Er allein genügt! Das ist doch auch das Herrliche an Matthäus 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“ Wo das verwirklicht wird (natürlich nicht nur als Lippenbekenntnis), da möchte ich sein. Dahin kann ich auch voller Freude alle treuen Kinder Gottes einladen – ohne ihnen Vorwürfe zu machen, wenn sie meinen, in ihrer „Gemeindeform“ dem Herrn besser dienen zu können.

Frage: Du führst aus, „im Namen des Herrn versammelt zu sein“ sei „kein Status, den man (z.B. von anderen Versammlungen) verliehen“ bekommt (S. 177), sondern müsse „beständig verwirklicht werden“. Kannst du diesen Gedanken näher ausführen? Was heißt das konkret?

Axel Volk: Ich habe das im Buch einmal Johannes 16,23 gegenübergestellt. Da geht es um „Bitten im Namen des Herrn Jesus“. Was genau heißt das? Ist das eine Floskel, die ich ans Ende meines Gebets stellen darf, damit dieses auch sicher erhört wird? Oder sind alle meine Gebete, weil ich ja „Christ“ bin, also zu Christus gehöre, immer automatisch „in seinem Namen“ gesprochen? Ich verstehe es so, dass ich Bitten äußere, die mit seinen Gedanken in Übereinstimmung sind, Bitten, die seinem Willen entsprechen. Solche Bitten haben die Verheißung, dass Gott sie erhören wird.

In gleicher Weise verstehe ich Matthäus 18,20. „Versammelt in seinem Namen“ ist nach meinem Verständnis kein Etikett, das man sich als Gemeinschaft von Christen selbst geben kann, auch kein Status, den andere Gemeinden oder überörtliche Gremien einer Ortsgemeinde verleihen oder wieder entziehen können, sondern es hängt mit dem praktischen Leben einer Gemeinde zusammen. Ist der Herr Jesus tatsächlich der Mittelpunkt des Zusammenkommens, drehen sich die Gedanken um ihn, hat sein Wort Autorität in allen Fragen, wird bei Beschlüssen aufrichtig nach seinem Willen gefragt? Nur wenn das lebendige Wirklichkeit ist, kann man nach meiner Überzeugung die Verheißung aus Matthäus 18,20 in Anspruch nehmen.

Frage: Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass viele (frei-)kirchliche Gemeinden, etwa manche freie evangelische Gemeinden, wesentliche innovative Elemente, die die erste Generation der Brüderbewegung mutig umsetzte, heute glaubwürdiger und konsequenter leben als die meisten Brüdergemeinden aus dem „geschlossenen“ und „blockfreien“ Spektrum. Das freikirchliche Spektrum lebt meiner Wahrnehmung nach heutzutage insgesamt – das war sicher lange Jahrzehnte anders – eher von Kooperation als von Abgrenzung. Ich gehöre z.B. einer Evangelisch-freikirchlichen Gemeinde an, wir kooperieren bei sozialen oder evangelistischen Aktionen mit anderen Kirchen und Freikirchen. Wir pflegen gegenseitige Besuche und Predigtdienste. Wir bürgen finanziell gemeinsam für syrische Glaubensgeschwister, damit diese aus Konfliktregionen ausreisen können. Das sind Zeichen der Einheit, die von Außenstehenden durchaus wahrgenommen werden. In meiner Heimatstadt sind die christlichen Gemeinden dafür bekannt, dass sie bei allem Trennenden nicht gegeneinander arbeiten, sondern zusammenstehen und den gemeinsamen Kern, den gemeinsamen Herrn immer im Blick halten. Provozierend gesagt: Brüdergemeinden reden immer von der Einheit der Gläubigen – aber andere Gemeinden leben sie. Was läuft da schief? Dein Argument, dass Freikirchen damit nur eine „rein menschliche Einheit“ zeigen, die „nichts mit der Einheit des Geistes zu tun“ habe (S. 51f.), finde ich ehrlich gesagt nicht sonderlich überzeugend.

Axel Volk: In zweifacher Hinsicht gebe ich dir Recht. Sicher ist es erfreulich, wenn Christen verschiedener Richtungen im Gutestun kooperieren, anstatt gegeneinander zu arbeiten. Und sicher ist es absolut beschämend, dass die, die so viel von Einheit reden, das Gegenteil davon praktizieren. Daran gibt es nichts zu beschönigen!

Zu meiner Behauptung, dass vieles in der Christenheit trotzdem den Charakter einer „menschlichen Einheit“ hat: Würden es nicht auch gegnerische politische Parteien schaffen, im Einsatz für das Gute (z.B. bei der Aufnahme von Asylanten) gemeinsame Projekte zu realisieren? Würden nicht auch sie sich in Krisensituationen (wie z.B. bei einem Terroranschlag) auf ihren „gemeinsamen Kern“ besinnen, nämlich die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundwerte? Ist das wirklich ein außergewöhnliches Zeugnis, wenn christliche Gemeinden es schaffen, in sozialen Projekten zusammenzustehen und einen kleinsten gemeinsamen Nenner auszumachen, indem sie, wie du sagst, „den gemeinsamen Herrn immer im Blick halten“? Finden nicht sogar Protestanten und Katholiken einen solchen gemeinsamen Nenner? Sollen wir uns also für die Ökumene engagieren? Wo ist da die Grenze? Für welche biblischen Lehren müssen wir kämpfen, welche können wir zugunsten der Einheit vernachlässigen?

Die Einheit, die die „Brüderbewegung“ bewahren wollte (wenn sie auch darin so schrecklich versagt hat), ist viel umfassender als nur ein „gemeinsamer Kern“, über den sich Christen verschiedener Gemeinderichtungen einigen können. Es ist die komplette Lehre des Neuen Testaments, ohne pragmatische Abstriche oder Zugeständnisse an den modernen Zeitgeist. Davon möchte ich auch in unserer Zeit keinesfalls Abstriche machen.

Frage: Du skizzierst sehr realistisch Auswirkungen der Trennungen auf einzelne Gemeinden und das individuelle Glaubensleben Einzelner (S. 230). Ich möchte aus meiner Sicht eine negative Folgewirkung ergänzen: Mein Eindruck ist, dass „blockfreie“ Gemeinden bzw. deren Mitglieder nicht selten unter einem gewissen Phantomschmerz leiden. Sie vermissen dann doch mitunter sehr deutlich auch nach Jahren noch das in sich stimmige Weltbild der „geschlossenen Brüder“, sie vermissen den daraus erwachsenden Halt, die Klarheit, die Eindeutigkeit bis hin zu Handlungsleitlinien. Jetzt kann man freier agieren – aber gleichzeitig fehlt die klare Linie, jetzt stehen manchmal Optionen zur Entscheidung, die man früher gar nicht hatte ... Die einigende Kraft starker Leiter, die stabilisierende Struktur überregionaler Organisationen, etwa des CSV-Verlages, fehlt bei „blockfreien“ Brüdern. Wie siehst du die Zukunft der „blockfreien“ Gemeinden? Wie werden sie sich entwickeln?

Axel Volk: Oh, das ist wirklich eine ganz schwere Frage. Mit Zukunftsprognosen will ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Schließlich glaube ich an einen lebendigen Herrn, der Gebete erhört, der Wunder tut und Herzen verändern kann. Wäre das nicht so, dann würde ich, ehrlich gesagt, für die Zukunft der „blockfreien Versammlungen“ schwarz sehen.

Schon jetzt ist erkennbar, dass sich diese Gemeinden sehr unterschiedlich entwickeln. Ja, tatsächlich fehlt so etwas wie eine, im positiven Sinne, einigende Kraft. Vieles hängt im Moment von starken Führungspersönlichkeiten an den einzelnen Orten ab. Wenn diese es versäumen, die Übergabe des Staffelstabes an die nächste Generation sorgfältig vorzubereiten (wie es Paulus einst mit Timotheus tat), dann wird meiner Einschätzung nach vieles verflachen und die „Blockfreien“ werden sich in Richtung einer „normalen Freikirche“ neben anderen entwickeln.

Aber wie gesagt gibt es noch eine andere Perspektive: Da, wo Gott aufrichtige und demütige Herzen sieht, die seinen Willen ohne Abstriche tun wollen, da wird er helfen, auch in schweren Zeiten an einem bibeltreuen Kurs festzuhalten.

Frage: Ich bin gestolpert über deinen Satz „Was die Lehre angeht, so gibt es letztlich immer nur eine richtige Auslegung jedes Bibeltextes“ (S. 40). Müssen biblische Texte nicht immer wieder neu in geschichtliche und persönliche Situationen hineinsprechen? Die Bibel ist doch kein Nachschlagewerk, aus dem wir einmal für immer Gesetzesregelungen ableiten. Natürlich bleiben grundlegende Glaubenswahrheiten konstant, aber viele Episoden, Passagen und Szenen können je nach Einbettung auf Leser ganz unterschiedlich wirken. Warum werden denn sonst ständig neue Bibelkommentare geschrieben und veröffentlicht – nimmt man deine Aussage ernst, müsste es doch irgendwann den einen abschließenden Kommentar für alle Zeiten und Situationen geben?!

Axel Volk: Hier ist es mir wichtig, sorgfältig zwischen der „Auslegung“ und den „Anwendungen“ eines Bibeltextes zu unterscheiden. Das, was du meinst, also das Hineinsprechen von Bibeltexten in konkrete Lebenssituationen, nenne ich „Anwendung“. Davon gibt es in der Tat unerschöpflich viele. Das ist gerade das Wunderbare an diesem lebendigen Wort! Wie viele Millionen von Gläubigen mögen beispielsweise in den unterschiedlichsten Notsituationen ihres Lebens durch die Psalmen Davids ermutigt worden sein.

Unter „Auslegung“ verstehe ich demgegenüber die Erklärung des ursprünglichen Sinns einer Stelle, gerade in Fragen der christlichen Lehre. Und da bin ich überzeugt, dass Gott zu ein und demselben Thema nicht zwei verschiedene Meinungen hat. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Was meint der Ausdruck „in einem Geist getauft zu sein“ in 1. Korinther 12,13? Charismatische Ausleger verstehen diese Bibelstelle z.B. völlig anders als andere Bibellehrer. Was hat der Heilige Geist an dieser Stelle nun genau gemeint? Das ist für mich das Suchen nach der richtigen Auslegung. Und dieses Suchen ist absolut wichtig, damit wir ein gesundes Glaubensfundament haben und nicht jeder Christ sich seinen Glauben wie eine Patchworkdecke selbst zusammenflickt, weil jeder diese oder jene Bibelstelle einfach anders versteht.

Ich sage nicht, dass es in jedem Fall einfach ist, über die richtige Auslegung Einigkeit zu erzielen – denn es gibt nun einmal auch schwierig zu verstehende Stellen –, aber ich sage, dass es immer nur eine richtige Auslegung geben kann und dass unsere Aufgabe darin besteht, sorgfältig danach zu suchen.

Frage: Du betonst mehrfach, die Gestaltung des Gemeindelebens und der Gottesdienste dürfe auf keinen Fall an den Geschmack der jungen Generation angepasst werden (S. 37, 61, 64). Natürlich, Neuerung und Innovation als reiner Selbstzweck wäre fatal. Aber ist die in Brüdergemeinden traditioneller Prägung praktizierte Form ewig unabänderbar? Wo steht z.B. im Neuen Testament, dass der Gemeindegesang nicht mit Klavier und Gitarre begleitet werden darf? Lässt das Neue Testament da nicht – wie du selber anmerkst (S. 243) – unglaublich viel Freiraum und Gestaltungsspielraum, der von der Form her immer wieder neu und passend gefüllt werden muss? Sind bislang ungewohnte Formen nicht unter Umständen genauso biblisch wie gewohnte Formen, wenn sie in angemessener Haltung umgesetzt werden und die „Gegenwart des Herrn in unserer Mitte“ (S. 61) vielleicht sogar besser erfahrbar machen? Du schreibst sehr restriktiv, dass „Erweckungen, die vom Geist Gottes gewirkt sind“, sich „nie in Neuerungen und ‚zeitgemäßen‘ Anpassungen“ zeigen“ (S. 60). Begehst du hier nicht den gleichen Fehler, den du Vertretern der „geschlossenen“ Brüdergemeinden vorwirfst (z.B. S. 133), nämlich unzulässigerweise unterschiedliche Praxis mit unterschiedlichen Grundsätzen gleichzusetzen?

Axel Volk: Mir ging es in diesem Punkt keinesfalls um gesetzliche Restriktionen, sondern ich wollte davor warnen, zum falschen Zeitpunkt die falschen Prioritäten zu setzen. Nach einer Trennung ist meines Erachtens ein ganz schlechter Zeitpunkt für äußere Veränderungen, und zwar aus mindestens drei Gründen:

  1. Viele Herzen sind in diesem Moment aufgewühlt und verbittert. In diesem Zustand neigen wir zu vorschnellen Überreaktionen, nach dem Motto: „Jetzt machen wir aber alles besser als vorher ...“ Wie leicht kommen jetzt diejenigen zu ihrem „Recht“, die immer schon unzufrieden waren und sich mehr „Freiheiten“ gewünscht haben. Was jetzt nottut, ist jedoch vielmehr Besonnenheit und intensives Gebet, dass der Herr die Herzen zur Ruhe bringt und richtig leitet.
  2. Wie oft spricht die Bibel, bezogen auf Gemeindeleben, von Anpassen und Modernisieren und wie oft spricht sie von Festhalten und Bewahren? Wir müssen uns davor hüten, dass der Fokus sich auf das Äußere verschiebt (auf Abläufe und Strukturen), während es gerade jetzt in der Phase der Neuorientierung entscheidend darauf ankommt, das Fundament (die Lehre, die richtigen Grundsätze) festzuhalten.
  3. Besonders wenn man doch noch auf eine Wiedervereinigung hofft, sollte man die entstandenen Gräben nicht zusätzlich unnötig vertiefen. Die Hemmschwelle, wieder aufeinander zuzugehen, wird sicherlich größer, wenn zu den vorher bestehenden Unterschieden auch noch veränderte Abläufe oder Strukturen hinzukommen.

All das sollte man bedenken, wenn man den aufrichtigen Wunsch hat, auf einem bibeltreuen Kurs weiterzugehen. Geistliche Belebung kommt immer von innen und wird durch Gebet und intensives Bibelstudium bewirkt, niemals durch das Verändern von äußeren Dingen, auch wenn Letztere nicht ausdrücklich verboten sind.

Frage: Wenn du an dem Gedanken festhältst, es sei eine Gemeindeform möglich, die eben keine Gemeinde wie andere ist, sondern eine neutrale Plattform sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner aller wahren Christen – müsste sich eine solche Plattform nicht auf die gemeinsame Schnittmenge, auf den Kern beschränken, also gleichzeitig zwangsläufig bei Stil- und Umsetzungsfragen sehr variabel und weit sein, um nicht den Fehler zu begehen, durch kleinteilige Einheitlichkeitsanforderungen die Einheitsbestrebung ad absurdum zu führen?

Axel Volk: Wie schon vorhin gesagt: Der kleinste gemeinsame Nenner wäre etwas, das Menschen zustande bringen können. Wenn wir uns um den Herrn Jesus Christus versammeln wollen, dann müssen wir in allen Bereichen nach dem Besten streben, nicht nach irgendeinem gemeinsamen Minimum. Das Minimalprinzip würde seiner Herrlichkeit in keiner Weise entsprechen. Seine Person und seine Gedanken sind der Maßstab, nicht die Schnittmenge all unserer menschlichen Gedanken und unvollkommenen Auffassungen. Wir müssen gemeinsam um ein möglichst exaktes Bibelverständnis ringen und uns nicht mit einer minimalen Schnittmenge begnügen. Wir müssen Abläufe anstreben, die nicht in erster Linie unserem Geschmack entsprechen, sondern die ein möglichst hohes Maß an geistlichem Tiefgang begünstigen. Wir müssen auch das Liedgut nicht zu einer reinen Stilfrage machen, sondern geistliche Kriterien daran anlegen.

Ich weiß, dass die Bibel uns dazu keine Schablonen vorgibt, die wir einfach nur zu kopieren brauchen. Um dem Idealbild von Gemeinde möglichst nahe zu kommen, ist nichts weniger nötig als eine echte geistliche Gesinnung und ein vom Heiligen Geist geschultes Unterscheidungsvermögen. Aber genau das sind ja die Ziele, die Gott mit uns erreichen möchte. Wir sollen „erfüllt sein mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlicher Einsicht, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen“ (Kol 1,9.10).

Frage: Du beschreibst plastisch, dass manche Brüder die Bibel nur noch durch eine „gefärbte Brille“ lesen (S. 100f.). Vorannahmen und gewohnte Deutungsmuster überlagern die Wahrnehmung. Du forderst den Leser auf, die Brille abzulegen – aber geht das überhaupt? Kann man die Bibel ohne Brille lesen?

Axel Volk: Da antworte ich, ohne zu zögern: Ja, das muss möglich sein! Wir werden im Neuen Testament eindringlich dazu aufgefordert, den Willen Gottes zu prüfen. Es ist gewissermaßen das Erkennungszeichen eines Christen, was ihn nach Römer 12,2 von den Menschen dieser Welt unterscheidet. Und die beiden Hilfsmittel, die Gott uns zu diesem Zweck gegeben hat, sind sein Wort und sein Geist. Was wir von unserer Seite mitbringen müssen, ist Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, immer wieder zuzuhören und sorgfältig zu prüfen. Gerade dann, wenn es unter Brüdern unterschiedliche Sichtweisen gibt. „Die Weisheit von oben ist bereit, sich überzeugen zu lassen“, schreibt Jakobus einmal in seinem Brief. Dazu gehört zweifellos immer wieder die selbstkritische Prüfung, ob das bisherige eigene Bibelverständnis nicht durch das Tragen einer bestimmten Brille beeinflusst war. Die Bibel selbst enthält wunderbare Verheißungen für die Aufrichtigen, z.B. in Sprüche 2,7.

Frage: Du endest – sehr ungewöhnlich in der Brüderliteratur – mit dem Abdruck eines Gebets. Was bezweckst du damit?

Axel Volk: Das niedergeschriebene Gebet soll dem Leser zum Schluss noch einmal einen Einblick in mein Inneres gewähren. Und es ist gewissermaßen auch eine Anfrage an jeden andersdenkenden Bruder: Kannst nicht auch du Amen dazu sagen? Können wir uns nicht auf dieser Grundlage begegnen? Indem wir gemeinsam vor unseren Herrn hintreten, unsere Schuld bekennen und ihn um einen echten Neuanfang bitten?

Frage: Was müssten jetzt die nächsten Schritte sein, damit dein Wunsch nach einem gemeinsamen Neuanfang getrennter Brüder beginnen könnte, Wirklichkeit zu werden?

Axel Volk: Was jetzt passieren müsste, wäre tatsächlich ein Wunder Gottes. Auf Seiten der „geschlossenen Brüder“ müssten Herzen bewegt werden, doch noch einmal auf die mittlerweile „Blockfreien“ zuzugehen und den unvoreingenommenen brüderlichen Austausch zu suchen. Ich habe nachgelesen, wie das eigentlich 1926 bei der Lowe-Kelly-Wiedervereinigung war. Damals begann es mit Briefwechseln zwischen einzelnen Brüdern, später traf man sich zu einer gemeinsamen Konferenz. Nach mehreren weiteren Zusammenkünften zum Gebet, zur Demütigung und zum brüderlichen Austausch war schließlich das gegenseitige Vertrauen wiederhergestellt und es kam tatsächlich zur Wiedervereinigung. Ob so etwas noch einmal möglich sein wird? Ich bete dafür!


Die Fragen stellte Ulrich Müller. Das Interview wurde im April 2015 geführt.
© bruederbewegung
.de


Hinweis: Die auf bruederbewegung.de veröffentlichten Positionen von Interviewpartnern stimmen nicht notwendigerweise mit der Meinung der Initiatoren dieser Website überein.

StartseitePersonen > Interviews > Volk


© 2015 by bruederbewegung.de · Letzte Änderung: Samstag, 24. Dezember 2016