Interview mit Willem J. Ouweneel (6)

Bildnachweis: www.medema.nlPersönliche Zukunftspläne und Ansichten

Frage: Woran arbeiten Sie zur Zeit?

Ouweneel: Dass am 18. September mein neues Buch „Mehr Geist in den Gemeinden“ erscheint, habe ich schon erwähnt. Es gibt einen guten Überblick über Dinge, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigt habe. Außerdem habe ich gerade ein Buchmanuskript mit dem Titel „Warum ich kein Atheist bin“ eingereicht. Das ist ein für Wissenschaftler und weltliche Kreise geeignetes, evangelistisch ausgerichtetes „theistisches Manifest“. Ich hoffe, dass es guten Anklang findet; ich verspreche mir schon etwas davon.

Frage: Sollte nicht auch ein Buch über T.B. Joshua erscheinen?

Ouweneel: Ja, aber das klappt irgendwie nicht. Da stößt doch die europäische und die afrikanische Mentalität aufeinander. T.B. Joshua hat sich ein anderes Buch vorgestellt, als ich vorhatte zu schreiben. Ich wollte ein „westliches“ Buch schreiben, das heißt: kritisch, distanziert (das wäre meines Erachtens auch für ihn nützlicher) und nicht ein Buch, in dem er nur hochgejubelt wird. Das käme nicht gut an. Er lehnt aber ein Buch ab, wo auch kritische Klänge zu hören sind. Aber wir haben das geklärt; ich denke nicht, dass das Buch je herauskommt.

Frage: 1995 haben Sie mit „Christian Doctrine“ eine systematische Theologie begonnen, von der aber nur ein Band erschienen ist.

Ouweneel: Ja, das war meine theologische Dissertation von 1993. Sie ist inzwischen vergriffen, aber wir vervielfältigen sie noch als Studienmaterial für unsere Theologiestudenten.

Frage: Wollen Sie dieses Projekt noch mit weiteren Bänden fortsetzen?

Ouweneel: Nein, ich habe dann doch andere Dinge für wichtiger gehalten. Es ist an sich noch immer ein reizvolles Thema, aber die Arbeit würde nur ein kleines Publikum von Spezialisten erreichen, das hat keinen Sinn.

Frage: Es ist vor allem deshalb interessant, weil Sie in Ihrer theologischen Dissertation auch Fragen der biblischen Hermeneutik behandeln. In „Op de Hoogte“ stand, dass Sie weiter an diesem Thema arbeiten.

Ouweneel: Ja, aber mehr in Artikelform in unserer Zeitschrift „Bijbel en Wetenschap“ (die mittlerweile „Ellips“ heißt). Vielleicht wird es auch Konferenzen zu diesem Thema geben, aber es ist kein Buch dazu in Planung. Die Autorität der Schrift ist auch ein sehr kompliziertes Thema.

Frage: Aber es ist ja schon eine grundlegende Frage. In „Sektiererei“ und auch in den Gladbecker Gesprächen forderten Sie: „Zurück zur Schrift!“ Ist es überhaupt möglich, die Bibel ohne die Brille von Vorurteilen und bereits bekannten Auslegungen lesen?

Ouweneel: Nein, das ist nicht möglich, und so war das auch nicht gemeint. Wir müssen uns bewusst werden, was für eine Brille wir auf der Nase haben, und die Brille möglichst einmal wechseln. Aber die Bibel vollkommen unvoreingenommen zu lesen ist als Europäer am Anfang des 21. Jahrhunderts kaum möglich; wir haben die Renaissance und die Aufklärung und 2000 Jahre Geistesgeschichte hinter uns. In Afrika wird die Schrift oft auf ganz andere Weise gelesen (Befreiungstheologie usw.). Auch bei Eta Linnemanns Bekehrung konnte man beobachten, wie sie schlagartig die Brille wechselte.

Das Problem ist, dass viele sich ihrer Brille nicht bewusst sind. Vor kurzem hörte ich von einem Bruder aus einer strengen Versammlung, dass er grundsätzlich keine anderen Bücher liest als die Bibel, weil sie alle fehlerhaft und menschlich seien. Das ist eine sehr weise Einsicht, aber er wendet sie peinlicherweise nicht auf sich selbst an: Er ist ein führender Mann in seiner Versammlung, und was er lehrt, ist dort für alle mehr oder weniger maßgebend. Viele betonen auch, dass wir doch den Heiligen Geist in uns haben, der uns belehrt. Richtig, aber warum belehrt er uns dann alle so unterschiedlich? Der Grund ist, dass wir nicht gelernt haben zu unterscheiden zwischen dem, was vom Heiligen Geist ist, und dem, was zu unserem Denkrahmen gehört, den wir nicht bewusst wahrnehmen, der aber von Kindheit an geprägt worden ist.

Frage: Könnte es sein, dass vielen Auseinandersetzungen der letzten Jahre gerade dieses Problem zugrunde liegt, dass nicht mehr zwischen dem Bibeltext und seiner Auslegung unterschieden wird? Die meisten „geschlossenen Brüder“ sind sich vermutlich sicher, dass jeder, der die Bibel ganz ohne Vorurteile liest, zu ihren Schlüssen und Ansichten kommt.

Ouweneel: Genau. Aber das war natürlich immer schon ein Problem. Wir lesen die Schrift unter der Leitung des Heiligen Geistes, deshalb gibt es, wie ein humorvoller deutscher Bruder mir einmal sagte, nur zwei Meinungen: „meine und die falsche.“ Das heißt: Die subjektive Meinung ist maßgebend, weil ich sie „vom Herrn empfangen habe“. Dieser Anspruch wird dann entweder für sich persönlich oder für „die Brüder“ erhoben. Das hätte sich Darby vielleicht auch nie vorstellen können, dass man seine Theologie einmal so verabsolutieren würde. Aber das ist typisch für die Geschichte jeder Sekte. Es hat viele Jahrhunderte nur „Finsternis“ gegeben, und plötzlich bricht durch ein einziges Ereignis das Licht durch. Danach kommt nichts Neues mehr hinzu, wir brauchen uns nur an diesem Licht zu erwärmen. Es gibt keine neuen Gedanken, nur Wiederholungen der alten.

Frage: Wir würden gerne noch den Punkt „Inspiration der Bibel“ ansprechen. Es wurde Ihnen ja vorgeworfen, Sie würden den Begriff „Inspiration“ als leere Hülse nehmen und hineinpacken, was Ihnen passt.

Ouweneel: Ich habe einmal gesagt: „Ich glaube an die göttliche Inspiration, aber jeder menschliche Versuch, die Inspiration in eine Theorie zu fassen, ist fehlerhaft.“ Ich kann meinen Studenten etwa acht Inspirationstheorien erklären, und wenn sie mich dann am Ende fragen: „Welche ist nun die richtige?“, sage ich: „Keine.“ Das sind alles menschliche Versuche, das Geheimnis der Inspiration irgendwie in den Griff zu bekommen. So oder ähnlich hatte ich mich irgendwo geäußert, und prompt erschien in einer holländischen Zeitung ein Bericht mit der Schlagzeile: „Ouweneel lehnt alle Inspirationstheorien ab“. Dieser Bericht wurde natürlich auch sofort ausgeschnitten, übersetzt und in der Welt verbreitet. Und das „einfache Volk“ schließt daraus, dass ich die Inspiration an sich ablehne.

Frage: Aber bei der Inspiration geht es ja nicht nur um theologische Theorien, sondern auch um die konkrete Frage der Glaubwürdigkeit der Bibel. Hat Adam historisch existiert? Hat die Schlange gesprochen? Der Artikel, den Sie dazu im Oktober 2001 in „Bijbel en Wetenschap“ veröffentlicht haben, wirft eigentlich genauso viele Fragen auf, wie er beantwortet.

Ouweneel: Natürlich! Die Fragen habe ich doch selbst auch. Für viele war es schon bestürzend, dass ich gefragt habe: „Wenn wir die Bibel buchstäblich lesen müssen, was heißt das nun ganz genau? In der Bibel steht, dass Gott den Menschen aus dem Ton der Erde bildete und ihm den Odem in seine Nasenlöcher einhauchte. Wenn jemand mit einer Fernsehkamera daneben gestanden hätte, was hätte er da gesehen?“ Allein diese Frage ist für manche schon so beunruhigend, so bedrohend. Das Wort „buchstäblich“ ist ein schwieriges Wort! Zum Beispiel heißt es im Neuen Testament klipp und klar, dass die Schlange der Teufel war. Was bedeutet das nun? Ich weiß es nicht! Bin ich also nur bibeltreu, wenn ich glaube, dass es ein echter Baum und eine echte Schlange war, die auch real gesprochen hat, sodass man es theoretisch auf einer Kassette hätte aufnehmen können? Sogar die alten Kirchenväter sind nicht so mit der Bibel umgegangen. Das ist auch eine typisch westliche Sicht auf Geschichtlichkeit: Genauigkeit ist journalistische Genauigkeit; es muss eine faktisch richtige und vollständige Beschreibung sein.

Frage: Welche Relevanz hat für Sie die Frage, ob die Schöpfungstage 24 Stunden dauerten?

Ouweneel: Ich wurde einmal zu kreationistischen Vorträgen nach Australien eingeladen und sollte vorher die Ansichten der Einladenden unterschreiben. Eine der Lehren war, dass die Schöpfungstage 24 Stunden gedauert hätten. Ich schrieb zurück: „Woher wissen Sie das so genau? Vielleicht haben sie 20 Stunden gedauert oder 30 Stunden?“ Daraufhin habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört. Es war mir schon damals – es ist jetzt viele Jahre her – nicht geheuer, wenn man mehr wissen will, als die Schrift sagt. Schon Calvin schrieb: „Gott machte Röcke aus Fellen für Adam und Eva. Ja, Gott ist doch kein Schneider, kein Näher?“ Wie soll man sich das vorstellen? Viele geistliche Wahrheiten werden so ausgedrückt, dass man sich überhaupt kein Bild davon machen kann. Wir Menschen wollen aber Bilder. Für die Kinderbibel brauchen wir ein Bild: So hat es ausgesehen. Und daran wird unsere Bibeltreue gemessen! Das Wichtigste ist doch das, was Francis Schaeffer ungefähr so ausgedrückt hat: Gott hat eine gute Welt geschaffen, und diese ist an einem gewissen geschichtlichen Augenblick zusammengebrochen. Sie ist jetzt nicht mehr so, wie sie am Anfang geschaffen wurde. Die Ursache dafür ist der Teufel; aber auch der Mensch, der darauf hereingefallen ist.

Frage: „Bibeltreu“ klingt oft wie ein selbst verliehenes Gütesiegel. Kann man wirklich bibeltreu sein? Ist es nicht eher ein Bemühen als ein Zustand?

Ouweneel: Natürlich! Alle Theologen sind ihrem Verständnis nach bibeltreu! Denn sie reden über die Bibel so, wie sie denken, dass sie der Bibel am besten gerecht werden. Ich definiere „bibeltreu“ daher so: von der Bibel das glauben, was sie von sich selbst bezeugt. Das heißt: das Selbstverständnis der Bibel ernst nehmen. Wer sagt: „Die Bibel sagt zwar dies und das von sich selbst, aber wir wissen, dass es anders ist“, ist nicht bibeltreu. So würde ich das definieren.

Ein Punkt ist dabei allerdings ganz wichtig: Es geht nicht so sehr darum, was man alles theoretisch von der Schrift glaubt, sondern ob man sich tatsächlich vor der Schrift beugt. Es geht nicht darum, ob wir vernünftige Beweise haben. Letztlich geht es um die existenzielle Wahl, ob man sich diesem Gott unterwirft. Es ist nicht entscheidend, ob man intellektuell von Einzelpunkten überzeugt wird. Das ist das Problem des Fundamentalismus: Kann man beweisen, dass die Bibel das Wort Gottes ist? Nein, es geht um Glaube, um Übergabe, um Hingabe!

Frage: Beim Thema Evolution oder Schöpfung wird diese Fragestellung greifbarer. Um die Schöpfungsgeschichte für plausibel zu halten, braucht man sehr viel Glauben. Aber für die Evolutionstheorie doch genauso! Ich kann mich also für eine der beiden Annahmen entscheiden. Welchen Sinn haben in diesem Zusammenhang kreationistische wissenschaftliche Veröffentlichungen? Beide Annahmen sind naturwissenschaftlich nicht endgültig beweisbar.

Ouweneel: Mir fallen zwei Hauptgründe ein, wozu solche Veröffentlichungen nützlich sein könnten:

  1. Es ist nötig, Menschen zu informieren und aufzuklären, besonders die, die sich von so genannten Fakten beeinflussen lassen. Es ist sinnvoll, die ideologische Prägung des Evolutionismus aufzudecken. Wenn jemand behauptet: „Dies und das sind Tatsachen, und wenn die Bibel etwas anderes sagt, liegt sie falsch“, antworte ich: Der Evolutionismus ist zunächst eine Ideologie, in die dann Fakten hineingepasst werden. Das haben die ehrlichen unter den Evolutionstheoretikern auch immer offen zugegeben.
  2. Viele sagen: „Wenn die erste Seite der Bibel nicht stimmt, wie können wir dann den Rest ernst nehmen?“ Das Thema Schöpfung oder Evolution ist also ein wichtiger Punkt im geistlichen Kampf. Dabei geht es um die, die in der Mitte hängen, für die das wirklich ein Hindernis ist, eine Barriere zum Glauben.

Aber beweisen können wir sowieso nichts. Wir können auch nicht beweisen, dass Gott existiert. Wohl aber können wir den Glauben rational plausibler machen. Ich glaube, dass es vernünftiger ist, Christ zu sein, als kein Christ zu sein. Dafür habe ich sehr gute Begründungen. Aber die Begründungen sind noch keine schlüssigen Beweise im Sinne der Logik.

Frage: Zusammengefasst sagen Sie also: Der Vorwurf, Ihr Verhältnis zur Autorität der Schrift sei inzwischen gespalten, trifft nicht zu.

Ouweneel: Ja, das ist absoluter Quatsch.

Frage: Würden Sie denn sagen, dass sich Ihre Auffassung über die Schrift im Laufe der Jahre gewandelt hat?

Ouweneel: Nein.

Frage: Sie denken jetzt nur etwas nuancierter darüber?

Ouweneel: Ja, in dem Sinne, dass ich mir solcher kritischen Fragen besser bewusst bin. Früher hätte ich „Fundamentalismus“ vielleicht als Ehrentitel betrachtet; jetzt sehe ich, wie viel Schwärmerei, wie viel Obskurantismus und wie viel Autoritätsdenken darin steckt. Es verbirgt sich auch viel Fanatismus dahinter, häufig gekoppelt mit einer generellen Anti-Haltung anderen gegenüber, die dann nicht selten übel verunglimpft werden. „Fundamentalismus“ ist wie „Bibeltreue“ ein Wort, das man zuerst einmal richtig definieren muss. Wenn es dasselbe ist wie bibeltreu, bin ich auch Fundamentalist. Nicht aber, wenn es bedeutet, dass man grundsätzlich von der Wissenschaft nichts wissen will. In der Inerrancy-Diskussion der amerikanischen Theologie erschien zwar ein Buch über die Voraussetzungen der „Errantists“, aber nie ein Buch über die Voraussetzungen der „Inerrantists“. Die lasen einfach die Bibel und stellten dann – Norman Geisler zum Beispiel hat sich klar in diesem Sinn geäußert – die Voraussetzungen der anderen den „Fakten der Schrift“ gegenüber. Das ist natürlich dumm. Die Voraussetzungen des anderen stehen meinen eigenen Voraussetzungen gegenüber, und wir können darüber diskutieren. Es ist naiv anzunehmen, dass die Ideen des anderen meinen Fakten gegenüberstehen. Wer so denkt, hat über solche Grundfragen offensichtlich noch nie nachgedacht.

Die aktuelle Diskussion um fundamentalistische Muslime macht deutlich, dass bei dem Wort „Fundamentalismus“ auch eine gewisse Schwärmerei und ein gewisser Fanatismus mitschwingt. Deshalb kann eigentlich keiner von uns stolz darauf sein, Fundamentalist genannt zu werden.

bruederbewegung.de: Herzlichen Dank für das Gespräch!


Die Fragen stellten Ulrich Müller und Michael Schneider.
Das Interview wurde am 16. August 2004 in Huis ter Heide (NL) geführt.
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